Das Labyrinth der Wörter
dieses Buch … Wie soll ich Ihnen das erklären? Ich werde es nie ganz von vorn bis hinten lesen. Weil die Version – siehe: Lesart –, die mir am besten gefällt, Marguerittes Version ist.
E ines Tages, nicht sehr lange nachdem ich Die Pest geschenkt bekommen hatte, war ich mit Marco und Landremont in Francines Kneipe. Wir spielten Karten, während die Nachrichten liefen. Sie zeigten einen Bericht über ein Land, ich weiß nicht mehr genau, welches. Jedenfalls eine Gegend, wo zurzeit einiges los ist, kriegsmäßig. Und jetzt hatte es da gerade ein Erdbeben gegeben, eine richtige Katastrophe mit einem Haufen Toten, nach den ersten Schätzungen.
Landremont hat gesagt: »Mannomann! Manche haben echt kein Glück, oder? In dieser Gegend kriegen die ständig was auf die Schnauze. Wenn es keine Bomben sind, die vom Himmel fallen, bricht ihnen das Dach über dem Kopf zusammen.«
Marco hat hinzugefügt: »Fehlt nur noch, dass die Cholera sie erwischt …«
»Oder die Pest, wie in Oran, in dem Buch von Camus!«, habe ich gesagt.
Landremont hat mir einen komischen Blick zugeworfen. Er hat den Mund aufgemacht, aber es kam nichts raus. Er hat sich zu Marco und Julien umgedreht, dann wieder zu mir. Und dann hat er wie nebenbei gefragt: »Du liest Camus?«
»Och … Nur Die Pest , nichts weiter.«
»Ach ja? Du hast Die Pest gelesen, ›nichts weiter‹? Du interessierst dich also auf einmal für Bücher!«
Die Art, wie er mit mir redete, brachte mich auf die Palme. Ich habe mein Bier ausgetrunken, bin aufgestanden und habe gesagt: »Du liest ja auch welche.«
Und als ich draußen war, habe ich gedacht: Beim nächsten Mal hau ich dir eine rein, wenn du so weitermachst, du Hund.
Um ihm »den Kopf zurechtzurücken«, wie meine Mutter gesagt hätte. Und da ich schon an sie dachte, habe ich mir gesagt, es wäre gut, sie mal wieder zu besuchen, solange sie noch lebt, irgendwann in den nächsten Tagen.
M eine Mutter lebt dreißig Meter von mir entfernt. Sie im Haus und ich im Garten … also im Wohnwagen, meine ich. Trotzdem könnten wir kaum weiter voneinander weg sein, wenn ich es mir so überlege.
Ich hätte mir natürlich eine eigene Bude suchen können, aber was hätte mir das gebracht? Ich brauche keinen Platz, außer für das Bett und eine Ecke, wo ich mich hinsetzen und mir was zu essen machen kann. Raum nehme ich sowieso genug ein. Man sagt mir oft, dass ein Wohnwagen bei meinem Körperbau ganz schön eng sein muss. Schon als Kind bin ich überall angestoßen, ich war immer viel zu groß für alles. Annette findet mich eine Wucht. Aber seit wann kann man einer verliebten Frau glauben? Sie wissen ja, wie die sind: Sie sehen in Ihnen den Schönsten, den Stärksten. Angeblich neigen Mütter auch dazu. Zumindest wenn sie diese Ader haben.
Ich bin wegen meinem Gemüsegarten geblieben. Den habe ich nämlich selbst angelegt, ganz allein. Ich habe den Boden mit dem Spaten umgegraben, was keine Arbeit für Schlappschwänze ist, das können Sie mir glauben. Ich habe den Zaun mit dem kleinen Tor gebaut, den Werkzeugschuppen, das Gewächshaus. Der Gemüsegarten ist mein Baby. Klingt vielleicht dämlich, ist mir aber egal. Ohne mich wäre er nicht auf der Welt. Ich lasse ein bisschen was von allem wachsen – Karotten, Steckrüben, Mangold, Kartoffeln, Lauch. Auch Salate: Kopfsalat, Friseesalat, Romana, etwas Batavia. Und auch Tomaten, vor allem Ochsenherz und Schwarze Krim, neben der Marmande natürlich. Ansonsten je nach Jahreszeit und Lust und Laune. Zwischen das Gemüse setze ich Blumen, für die Optik. Als ich mit dem Garten angefangen habe, war ich jung. Ich weiß nicht mehr genau, vielleicht zwölf oder dreizehn?
Meine Mutter schrie und zeterte damals, meinetwegen würde ihr Rasen jetzt aussehen wie eine Baustelle. Ihr »Rasen«? Von wegen! Die reinste Unkrauthalde!
Jetzt sagt sie nichts mehr. Aber sie kommt immer und klaut mir Gemüse, kaum dass ich ihr den Rücken gekehrt habe. Am Anfang habe ich geschimpft, aber im Grunde pfeife ich drauf. Ich habe sowieso zehnmal mehr Gemüse, als ich brauche. Manchmal verkaufe ich sogar welches auf dem Markt. Und meine Mutter bekommt auf diese Art etwas Bewegung, der Weg in den Garten und zurück, mit ihrem Korb. Das kann sie gebrauchen. Sie schnauft wie ein Walross, wird bestimmt mal am Herz oder an den Bronchien draufgehen. Oder an beidem. Was den Kopf angeht, ist sowieso schon alles zu spät. Aber der Kopf, das ist nicht tödlich: Man kann auch ohne ihn leben.
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