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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Ich wäre nur auf der Welt, um ihr Ärger zu machen und sonst gar nichts.
    Dann seufzte sie, prüfte meine Treter, bis sie ganz sicher war, dass sie nicht mehr zu retten waren, und schleifte mich am Ende zum Schuhpalast. Sie schob mich in den Laden und rief laut, um die Klingel zu übertönen: »Monsieur Bourdelle?!«
    Und der kurzbeinige Verkäufer, der sich in einer Ecke des Ladens hinter einem Perlenvorhang versteckte, antwortete: »Komme schon …! Zu Ihren Diensten!« Er schoss aus seinem Kabuff hervor und stürzte mit gieriger Miene auf mich zu. Er kam mir vor wie eine dicke Spinne, die es auf eine Fliege abgesehen hat. Ich konnte den Kerl nicht ausstehen.
    Er zog mir die Schuhe aus, statt mich das selbst machen zu lassen. Er schwitzte wie ein Schwein und hatte feuchte Hände. Er betatschte meine Flossen und sagte: »Jaaa, er hat einen kräftigen Fuß. Einen richtig kräftigen Fuß, das ist sicher. Schauen wir mal … 39, 40? Jawohl! 40! Nicht schlecht für sein Alter! Wenn das so weitergeht, wird der Junge Sonderanfertigungen brauchen.«
    Ich hätte ihm am liebsten eine reingehauen, wenn ich alt genug gewesen wäre. Aber mit zehn ging das einfach nicht. Und später, als ich es gekonnt hätte, war es nicht mehr aktuell. Das Alter lässt die Rachsucht der Menschen manchmal abklingen, anders als bei den Elefanten.
    Meine Mutter suchte immer das Billigste und Hässlichste aus. »Geben Sie mir was Robustes, Monsieur Bourdelle, damit es diesmal etwas länger hält …«
    Es klang, als würde sie die Schuhe selbst tragen wollen.
    Der Verkäufer wischte sich den Schweiß von der Stirn und sagte: »Sie haben Glück, Madame Chazes! Ich habe gerade etwas reinbekommen, das wird Ihnen gefallen. Einganz neues Modell, das den Knöchel gut stützt. Gute Passform, synthetische Kreppsohle, und italienische Ware dazu!«
    »Na dann«, meinte meine Mutter. »Wenn es italienische Ware ist, nehme ich sie. Aber wissen Sie, für den da ist nichts strapazierfähig genug …«
    Der da, das war ich.
    Bourdelle ging nach hinten, um in den Ladenhütern zu kramen, dann kam er mit seinem aalglatten Lächeln zurück und meinte, ich hätte Glück, weil genau meine Größe noch auf Lager wäre.
    »Sie werden sehen, ich lüge nicht! Schauen Sie, wie modisch die aussehen! Die jungen Leute mögen es so sportlich.«
    Und aus einer grauen oder braunen Schachtel holte er ein paar Quadratlatschen hervor, echte Pfaffentreter. Er versuchte sie mir an den Fuß zu zwängen: »Mach dich nicht so steif, mein Junge! Drück die Ferse rein! Sooo, sehr gut! Na, was habe ich Ihnen gesagt? Passt wie angegossen, in Größe 40!«
    Meine Mutter zweifelte. »Lassen Sie mal sehen.«
    Sie rümpfte die Nase, kniff die Lippen zusammen, wiegte den Kopf wie jemand, dem man nicht so leicht was vormacht. Und am Ende sagte sie immer: »Wissen Sie, was? Geben Sie mir lieber eine Größe darüber, dann bleibt noch was zum Reinwachsen.«
    Und so ging ich mit viel zu großen Schuhen wieder raus und trug sie, bis sie endlich aus allen Nähten platzten.
    Schon ulkig, die Erinnerungen, die man aus der Kindheit behält. Die Latschen, in denen ich erst hin- und herrutschte und mir die Sohlen heißlief, bis sie anfingen, mir die Zehen zu zerquetschen und Blasen zu scheuern. Das und auch die viel zu kurzen Hosen, die mir nicht mehr über die Knöchel reichten, und die Freunde, die sich über mich lustig machten: »He, Chazes! Hast du Hochwasser?«
    Ganz zu schweigen von der monatlichen Sitzung im Salon Chez Mireille, die meiner Mutter die Farbe machte und den Omas ihre Lockenwickler reindrehte. Ich schämte mich schon, wenn ich den Laden betrat. Alle anderen Jungs gingen zu Monsieur Mesnard, dem Friseur von ihrem Vater. Aber weil ich ja keinen Vater hatte, musste ich zur Friseuse.
    Man setzte mich auf den Stuhl direkt am Schaufenster. Es kam mir so vor, als würde an diesen Tagen das ganze Dorf auf der Straße entlangmarschieren. Als würden mich alle sehen können, mit meinen in der Luft baumelnden Füßen, den nassen, angeklebten Haaren und dem Mittelscheitel. Das Lehrmädchen legte mir ein rosa Handtuch um die Schultern. Sie drückte ihren dicken Busen an meinen Rücken, immerhin. Und dann schnitt man mir die Haare mit der Schere, nicht mit der Haarschneidemaschine wie bei allen anderen in meiner Klasse. Der Schnitt war vielleicht gar nicht mal so übel, aber wenn ich da raus war, kam ich mir lächerlich vor, was die Hölle ist, auch wenn es einen nicht umbringt, wie man so

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