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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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vernarrt in ihn.
    Dass ich selbst kein Kind habe, ist wohl ein Glücksfall … wie man so sagt, Sie wissen schon. Ich glaube, ein Kleines hätte mir gefallen. Wenn ich Annette manchmal so anschaue, sage ich mir, dass sie schön wäre, schwanger. Und noch viel schöner mit einem Baby auf dem Arm. Einem von mir, meine ich. Aber was hätte ich dem Kind schon zu geben? Ein tolles Geschenk wäre das, ein Vater wie ich, ganz ohne Schulabschluss. Ein Typ, der mit fünfundvierzig noch kein einziges Buch gelesen hatte, bis zur Pest von Albert Camus. Ein armer Kerl, der nicht mal in der Lage ist, einen anständigen Satz zu bilden, ohne dass ein Haufen schmutziger Wörter drinsteckt.
    Außer dass ich das Kind zum Angeln mitnehmen und ihm zeigen könnte, wie man schnitzt und dabei die Astknoten und die Faserrichtung beachtet, hätte ich ihm nichts zu bieten. Ich wäre kein gutes Vorbild. Ich könnte es nicht richtig erziehen.
    Dabei würde es sich Annette wünschen, dass ich sie dick mache. Manchmal im Bett nimmt sie meine Hand, legt sie an die Stelle unter ihrem Bauchnabel und flüstert mir ins Ohr: »Machst du mir heute ein Kleines?«
    Und wenn ich fühle, wie sie sich so sanft und warm an mich drückt, weich wie ein Daunenkissen, dann könnte ich ihr gleich ein ganzes Dutzend machen, und ich bin mir sicher, dass ich sie alle lieben würde.

 
    A nnette hatte schon mal eins. Sie hat es als Säugling verloren, wegen irgendeiner blöden Krankheit, Genaueres weiß ich nicht. Sie redet nie darüber. Auch wenn ich ein Mann bin, glaube ich, dass ich mir vorstellen kann, was es für eine Frau heißt, ihr Baby zu verlieren. Seitdem ist sie voller Tränen und voller Liebe, mit der sie nicht weiß, wohin. Vielleicht ist sie deshalb so schön. Der Schmerz gerbt einem das Fell manchmal so durch, dass man danach ganz schmiegsam und weich ist. Meine Mutter ist ein perfektes Beispiel für das Gegenteil: zäh wie Leder, sanft wie Schmirgelpapier.
    Aber es stimmt natürlich auch, dass das Leben ihr nichts geschenkt hat. Ich war ihr von Anfang an eine Last, und sobald man ihr den Bauch angesehen hat, ist sie von zu Hause rausgeflogen und wurde als Hure beschimpft. Bei ihrer Mutter war die mütterliche Ader anscheinend auch nicht besonders ausgeprägt.
    Vielleicht steckt die Liebe zwischen Mutter und Kind in der Erbmasse – Gesamtheit der Erbanlagen  –, wie Margueritte sagt, wenn sie wissenschaftlich redet. Bei meiner Mutter war da jedenfalls nicht viel angelegt.
    Ich weiß noch, wie sie den Nachbarinnen von meiner Geburt erzählte, als ich klein war: »Zehn Stunden habe ich gebraucht! Zehn Stunden, in denen ich schlimmer gelitten habe als ein Tier. Er wollte einfach nicht rauskommen, sodick war er. Fünf Kilo, könnt ihr euch das vorstellen?! Fünf Kilo! Ist euch klar, was das bedeutet? Schaut her: Das ist, wie wenn ich zwei Liter Milch nehme, plus ein Paket Zucker, ein Paket Mehl, ein Pfund Butter und hier, noch die drei Zwiebeln dazu. Was für eine Quälerei. Zehn Pfund! Man musste ihn mit der Zange rausziehen und mich danach wieder zusammenflicken. Deshalb ist für mich nach dem hier Schluss, nein danke, nie wieder! Vor allem, wenn man sieht, was man davon hat, was die einen kosten …«
    Immer wenn ich das hörte, fühlte ich mich schuldig. Ich sah diese ganzen Lebensmittel auf dem Tisch liegen, Milch, Zucker, Zwiebeln, einen vollen Einkaufskorb, und in meinem Kopf drehte sich alles: fünf Kilo, fünf Kilo, zehn Pfund, fünf Kilo …
    Ich wäre am liebsten zusammengeschrumpft und verschwunden.
    Aber es war wie verhext, je weniger Platz ich brauchen wollte, desto mehr wuchs ich in alle Richtungen. Vor allem die Füße. Was hat meine Mutter rumgezetert in den ganzen Jahren, weil sie mir alle drei Monate neue Schuhe kaufen musste: »Begreifst du eigentlich, was du mich kostest? Wenn das so weitergeht, schicke ich dich barfuß in die Schule. Barfuß, du wirst schon sehen!«
    Ich hätte die Zehen ja gern zusammengekrümmt, so wie die alten Chinesinnen – darüber habe ich mal eine Reportage gesehen –, aber zu enge Schuhe tun einfach zu doll weh. Außerdem nutzen sie sich am Ende sowieso alle ab. Und dann platzen sie eines schönen Morgens auf, entweder über dem großen Zeh oder unten an der Sohle oder gleich eine ganze Seitennaht lang.
    Meine Mutter brüllte dann immer, sie hätte es mir ja gesagt. Und es wäre doch verdammt noch mal nicht möglich: Schuhe, die man gerade neu gekauft hätte! Ich würde dasdoch mit Absicht machen!

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