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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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sagt. Ich würde aber sagen, doch: Lächerlichkeit tötet. Auf ganz kleiner Flamme.
    Natürlich war ich nicht der Einzige in meiner Klasse, der in schäbigen Klamotten rumlief. Aber die Sorgen der anderen, falls Sie das noch nicht bemerkt haben, trösten einen nicht. Man fühlt sich noch nicht mal weniger allein. Manchmal sogar ganz im Gegenteil.
    Landremont, der viel erzählt, wenn der Tag lang ist, sagt immer: »Was dich nicht umbringt, macht dich stark.«
    Das soll also das Leben sein: Entweder du bist stark, oder du bist tot?
    Was für eine Scheißauswahl.

 
    M eine Mutter und ich, wir reden nicht viel miteinander. Wir gehen uns lieber aus dem Weg. Von Zeit zu Zeit schaue ich nach, ob die Haustür offen ist, ob Wäsche auf der Leine hängt. Aber ich muss sie nicht sehen, um zu wissen, was sie tut. Das kann ich mir vorstellen. Morgens um acht geht sie im Bademantel runter, barfuß in ihren Schlappen. Sie macht sich Kaffee ohne Zucker, isst das Brot von gestern mit gesalzener Butter und guckt dabei ihre Fernsehserie. Sie spült ihr Frühstücksgeschirr ab und geht dann wieder hoch, um sich schönzumachen. Wenn sie dann wieder runterkommt, hat sie Wimperntusche und Rouge im Gesicht und ist mit Parfum besprüht. Meine Mutter liebt Parfum. Sie benutzt immer welches, aber nicht zu viel. Es bleibt erträglich. Mich würde es stören, wenn sie ordinär daherkäme, schließlich ist sie meine Mutter. Vor dem Spiegel im Flur richtet sie sich die Haare ein bisschen und sagt: »Tja, auch nicht mehr die Jüngste«, oder: »Na, ich sehe heute vielleicht wieder aus«, und seufzt dabei. Danach geht sie einkaufen.
    Sie wirkt überhaupt nicht wie dreiundsechzig, sondern älter. Das macht die Einsamkeit. Vielleicht auch die zwei Schachteln Zigaretten, die sie jeden Tag qualmt. Dabei weiß sie genau, dass Rauchen tötet, so wie es zur Sicherheit auf den Schachteln steht, die im Müll landen.
    Auf dem Rückweg vom Lebensmittelladen geht es ungefähr fünfhundert Meter bergauf. Wenn sie dann zu Hause ankommt, ist sie ganz außer Atem.
    Als ich klein war, habe ich manchmal zu ihr gesagt: »Mama, du sollst nicht rauchen.«
    Und sie darauf: »Du machst mich krank, viel kränker als meine Zigaretten, also spar dir deine Ratschläge. Und nenn mich nicht Mama, du weißt genau, dass ich das hasse!«
    »Ja, Mama.«
    Sie glaubte, dass ich sie provozieren wollte. Aber ich habe es einfach nie geschafft, Jacqueline oder Jackie zu ihr zu sagen. Ich habe es versucht, aber es ging nicht. Entweder Mama oder gar nichts.
    Gar nichts ging aber auch nicht.

 
    B ei Francine ist was passiert. Nicht in der Kneipe, sondern bei ihr selbst.
    Neulich Abend bin ich gegen sieben Uhr hin. Sie stand ganz allein hinterm Tresen und trocknete Gläser ab. Ich stützte mich mit den Händen auf der Theke ab und beugte mich rüber, um sie mit zwei Küsschen zu begrüßen. »Hallo, alles klar?«
    Ich habe sofort gemerkt, dass das die falsche Frage war, weil man aus der Nähe genau sah, dass überhaupt nichts klar war. Francine hatte eine rote Nase und ganz kleine Augen.
    Da habe ich das Ruder rumgerissen und es noch mal probiert: »Hallo, stimmt was nicht?«
    »Kann man so sagen«, hat sie mit piepsiger Stimme geantwortet.
    »Bist du krank?«
    Sie hat den Kopf geschüttelt. »Nein, nein.«
    »Was denn dann? Man könnte ja fast meinen, du hättest jemanden verloren …«
    Da ist sie in Tränen ausgebrochen und einfach weggerannt, Richtung Hinterzimmer.
    Ich blieb verwirrt stehen, wie ein begossener Pudel.
    Jojo kam aus der Küche und wedelte mit der Hand, was wohl heißen sollte: »Halt einfach die Klappe.«
    Ich habe geflüstert: »Was ist denn los?«
    »Youss ist weg.«
    »Wo ist er hin?«
    »Was weiß ich? Weg eben. Sie hatten gestern Abend Streit, als wir zugemacht haben. Er hat eine neue Flamme. Francine kommt damit nicht klar. Deshalb dreht man das Messer besser nicht in der Wunde rum, verstehst du?«
    Ich verstand genau, zumal wir seit bald drei Jahren Wetten darüber abschließen, wie lange die Geschichte wohl halten wird. Francine ist für ihr Alter sehr gut in Schuss, aber sie könnte Youss’ Mutter sein, wenn sie früh genug mit der Fortpflanzung angefangen hätte. Sechzehn Jahre Unterschied, stellen Sie sich das mal vor! Und dann auch noch eifersüchtig! Sie konnte es nicht mal haben, wenn sich irgendein Mädchen ihren Kerl nur ein bisschen genauer ansah.
    Youssef war nicht der Typ, der jedem Rock nachlief, aber es ist doch menschlich, für einen Mann, dass

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