Das Labyrinth der Wörter
sehen meint, wissen Sie?«
»Ach so, klar. Jetzt, wo Sie es sagen. Das wusste ich natürlich.«
»Und deshalb schreibt Romain Gary über die Liebe: Es gibt keine Brunnen mehr, es gibt nur noch Fata Morganas … Man meint, da sei Liebe, aber sie ist nicht wirklich da. Es ist nur eine Illusion.«
»Das ist bildlich gesprochen, nicht wahr?«
Sie hat das Buch in den Schoß gelegt. »Ja, es ist bildlich gesprochen, ganz genau. Man nennt das eine Metapher.«
»Eine was?«
»Eine Me-ta-pher. Ein sprachliches Bild, wenn Ihnen das lieber ist.«
Dann hat sie den Finger auf den Mund gelegt und lächelnd »pscht!« gemacht, bevor sie das Buch wieder in die Hände genommen hat. » Ich sage nicht, dass man die Mütter daran hindern muss, ihre Kleinen zu lieben. Ich sage bloß, dass es besser ist, wenn Mütter noch jemanden zum Lieben haben. Hätte meine Mutter einen Liebhaber gehabt, hätte ich mein Leben nicht damit verbracht, ›verdurstend an jeder Quelle zu sterb’n‹. Unglücklicherweise kenne ich mich mit echten Diamanten aus. «
Ich habe mir gesagt: Dieser Monsieur Gary und ich, wir hatten wirklich nicht die gleiche Erziehung, obwohl uns immerhin zwei Sachen verbinden: ein Vater, der nicht da war, und eine Mutter, die zu viel qualmte.
Ich fand auch, dass er etwas übertrieb. Seine Alte derart zu lieben, das gibt’s doch gar nicht.
Margueritte schien weit weg, sie sah froh aus und wiederholte leise: » Es gibt keine Brunnen mehr, es gibt nur noch Fata Morganas … «
»Und wenn es umgekehrt ist?«
Margueritte zog eine Augenbraue hoch. »Umgekehrt?«
»Wenn die Quelle vertrocknet war, wenn es keinen Brunnen gab, was weiß ich. Sie verstehen schon …«
»Wenn man nicht geliebt wurde, meinen Sie?«
»Ja, mal angenommen. Was wäre dann?«
Sie hat eine Weile überlegt. Dann meinte sie: »Nun, wenn Sie … also wenn jemand in seiner Kindheit nicht genug geliebt wurde, könnte man in einem gewissen Sinn sagen, dass ihm noch alles zu entdecken bleibt.«
»Das wäre doch im Grunde besser. Weil Ihr Gary, der wirkt ja verdammt hoffnungslos, wenn er von Frauen redet. Allein schon seine Idee mit dem Hund, der am Grab heult … War der Typ nicht zufällig ein bisschen depressiv?«
»Er hat sich umgebracht.«
»Na also, sag ich doch! Ich glaube, wenn seine Mutter ihn etwas härter rangenommen hätte, dann wäre es vielleicht nicht so weit gekommen.«
»War Ihre Mutter streng mit Ihnen?«
»Meine? Der war ich scheißegal.«
Margueritte hat ihr Buch in die Tasche gepackt und geseufzt. »Ich bedaure Sie. Es gibt nichts Schlimmeres als Gleichgültigkeit. Vor allem von der eigenen Mutter.«
»Ach, was soll’s. Sie hat eben diese Ader nicht.«
M argueritte hat keine Kinder. Dabei bin ich mir sicher, dass sie es gut gehabt hätten mit einer Mutter wie ihr, die ihnen zwischen zwei Reagenzgläsern von Kultur erzählt hätte und von Camus – in Kurzform, ohne die Längen. Aber sie sind nicht geboren, deshalb wissen sie auch nicht, was sie alles verpasst haben. Während es bei mir genau umgekehrt ist, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich bin hier zufällig geboren und dann aus Gewohnheit geblieben.
Die Leute sollten sich nur dann Kinder anschaffen, wenn sie wirklich welche gebrauchen können. So ein Kind, das verlangt einem noch viel mehr ab als zum Beispiel ein Hund. Und man wird es auch nicht so leicht wieder los – man kann es ja nicht einfach am Straßenrand aussetzen, außer man will für eine Weile in den Knast … bildlich gesprochen, aber das haben Sie sicher schon verstanden.
Dadurch, dass ich Margueritte getroffen habe und mit ihr über das Leben und solche Sachen reden kann, sehe ich auch meine Mutter mit anderen Augen. Lieben tue ich sie deshalb nicht gleich, man muss es ja nicht übertreiben. Aber sie tut mir irgendwie leid, das schon. Als Mensch, meine ich. Denn sie und ich, wir haben uns zwar viel angeschrien, vor allem sie mich, und mit der Faust gegen die Wände gehauen, vor allem ich. Aber trotzdem bleibt sie meine Mutter. Julien hat schon recht, auch wenn es mir nicht passt.
Sie hat mich nicht gewollt, das ist sicher. Sie hat michan den Hals gekriegt, so wie ein Algerier die Pest. Ich bin ein Unfall, eine Panne. Sie hätte mich natürlich trotzdem lieben können, solche Fälle gibt es. Zum Beispiel Julien. Wenn er uns von David erzählt, seinem ältesten Sohn, sagt er immer: »Mein Junge ist ein Silvesterschaden.« Aber wenn man ihn dann mal sieht mit seinem Knirps: Mann, ist der
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