Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
Vom Netzwerk:
symbolisch.
    Und außerdem war er praktisch, wegen der Nähe.

 
    E inmal – ich weiß nicht mehr genau, warum –, da hat Margueritte mich gefragt: »Haben Sie Ihre Mutter noch, Germain?«
    »Ja, immer noch.«
    Ich hätte gern hinzugefügt: »Leider!« Aber ich habe mir gesagt, dass Margueritte das sicher nicht verstehen würde. Zumal sie im nächsten Moment geseufzt hat: »Ach, da haben Sie aber Glück.«
    Was soll man darauf antworten?
    Margueritte hatte ihre Mutter sicher schon lange verloren, bei ihrem Alter. Ich habe mir gedacht, vielleicht fehlt sie ihr ja, wer weiß. Vielleicht sind auch die Alten Waisen, wenn sie ihre Mutter verlieren.
    Irgendwas musste da dran sein, weil sie als Nächstes anfing, mir aus einem Buch vorzulesen, das »eine großartige Mutterliebe beschreibt«, wie sie sagte. »Sie werden sehen, es ist sehr bewegend …«
    Frühes Versprechen heißt das Buch.
    Am Anfang kam ich nicht so richtig mit, es ging irgendwie um Götter mit komischen Namen, Totosch und ein paar andere, ich weiß nicht mehr genau. Aber dann packte es mich doch, als der Held von seiner Berufung redete, die er mit dreizehn gespürt hat, nur dass es bei ihm nicht Kirchenfenstermacher war, sondern Schriftsteller, aber der Beruf ist ja auch nicht schlechter als irgendein anderer.
    Margueritte hat noch ein Stück weiter vorgelesen.
    »Nicht schlecht für eine ausgedachte Geschichte«, meinte ich.
    Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich ist das eine Autobiographie.«
    »Aha.«
    »Mit anderen Worten, der Autor spricht von seiner wirklichen Kindheit, von seiner Mutter, von sich und vom Krieg, als er bei der Luftwaffe war. Er erzählt aus seinem Leben.«
    »Ach?«
    »Ja, wirklich. Er beschreibt, was er erlebt, was er empfunden hat.«
    »Auch da, wo er davon redet, an ihrem Grab zu heulen wie ein Hund?«
    »Wie ein Hund? Ich weiß nicht, was Sie … Aber ja, natürlich! Ich glaube, ich erinnere mich … Ich denke sogar, dass er genau mit diesen Worten … Warten Sie, warten Sie, ich muss nachsehen …«
    Sie blätterte mit dem Daumen durch die Seiten, frrrrt!, wie ein Kartenspieler.
    Und ich dachte mir, sie übertreibt, so schnell kann man doch gar nicht lesen, wenn man das Buch nicht mal richtig aufschlägt. Aber doch: Auf einmal hörte sie auf und rief: »Ich hab’s! Heulend wie ein herrenloser Hund kehrt man immer wieder ans Grab der Mutter zurück ! Tatsächlich … Ich bin beeindruckt, Germain, Sie haben ein hervorragendes auditives Gedächtnis!«
    »Ach was, ich kann mir nur ganz gut merken, was ich höre.«
    Sie hat angefangen, die Stelle noch mal still zu lesen, ganz egoistisch.
    Ich habe gesagt: »Könnten Sie vielleicht laut lesen?«
    »Aber natürlich! Mit umso größerem Vergnügen, als essehr schön ist, hören Sie: Es ist nicht gut, wenn man so jung, so früh, so sehr geliebt wird. Man nimmt schlechte Gewohnheiten an. Man glaubt, es geschafft zu haben. Man glaubt, es gebe dies alles woanders auch, man könne es jederzeit wiederfinden. Man rechnet damit. Man hält Ausschau. Man hofft. Man wartet. Mit der Mutterliebe macht dir das Leben in der frühesten Kindheit ein Versprechen, das es nie hält. Danach ist man gezwungen, bis an sein Lebensende kalt zu essen. «
    »Ach so, deshalb der Titel.«
    »Hm?«
    »Der Titel von dem Buch: Frühes Versprechen . Weil das Leben was verspricht, das es nicht hält. Deshalb hat er sein Buch so genannt, meinen Sie nicht? Wegen der Mutterliebe.«
    »Aber ja! Vollkommen richtig! Unglaublich, dass ich dieses wesentliche Detail bei meinen früheren Lektüren nicht bemerkt habe.«
    »Könnten Sie noch weiterlesen, bis zu dem Hund?«
    »Bis zum Ende des Kapitels, das ist noch besser.«
    »Einverstanden.«
    » Später sind es jedes Mal nur Beileidsbezeugungen, wenn dich eine Frau in die Arme nimmt und an ihre Brust drückt. Heulend wie ein herrenloser Hund kehrt man immer wieder ans Grab der Mutter zurück … «
    »Da: wie ein Hund , sehen Sie?«
    »… Nie mehr! Nie mehr! Nie mehr! Sanfte Arme legen sich um deinen Hals, und zarte Lippen sprechen von Liebe. Doch du weißt Bescheid. Du bist sehr früh zur Quelle gegangen und hast alles getrunken. Wenn du wieder durstig bist, magst du noch so überallhin stürzen, es gibt keine Brunnen mehr, es gibt nur noch Fata Morganas .«
    »Fata Morganas?«
    »Das sind Luftspiegelungen, optische Täuschungen, dieeinen Dinge sehen lassen, wo gar nichts ist. So wie im Sommer, wenn es heiß ist und man mitten auf der Straße Wasserpfützen zu

Weitere Kostenlose Bücher