Das Labyrinth der Zeit
Kamerawinkel ins Auge, die er bislang übersehen hatte. Innenaufnahmen des kurzen Tunnels direkt außerhalb der grünen Tür nämlich, eben noch zu erkennen durch die Gasschwaden, die aus den Kanistern ausgetreten waren. Andere Bildschirme zeigten eine identisch aussehende Tür, die wohl in den zweiten Zugang eingebaut war – dort waberte kein Gas. Auf den ersten Bildschirmen tauchten nun, wie ihm auffiel, zwei Männer mit Gasmasken auf, die auf die Tür zugingen, hinter der sie verschwunden waren. Beide hatten etwas in der Hand, was genau, war jedoch in der vernebelten Luft zunächst nicht zu erkennen. Dann setzten die Männer ihre Mitbringsel ein. Der Erste hatte ein Bandmaß dabei, dessen Ende er in die Lücke auf der Scharnierseite der Tür einhakte. Dann entrollte er das Maßband entlang der Tür, bis er ihre gesamte Breite abmessen konnte. Der Zweite trug, wie sich herausstellte, einen Hammer, einen Klauenhammer ganz normaler Größe. Der Mann legte ein Ohr an die Tür und schlug dann mit dem Hammer behutsam gegen den Stahl. Travis hörte das Geräusch auf der anderen Seite, aber nur ganz leise. Wenig später zogen sich die beiden wieder in Richtung Treppe zurück.
«So, das hätten wir», verkündete Bethany.
Sie hielt ihm sein Handy entgegen; das Computerkabel war mit einer freigelegten Platine in seinem Inneren verbunden.
Jeannie hatte tatsächlich auf die Mailbox gesprochen. 1978 war nur eins der beiden Apartments unter der Dritten Kerbe bewohnt gewesen, von einer Frau namens Loraine Cotton. Sie war im Herbst des Vorjahres eingezogen und wohnte das ganze Jahr 1978 dort.
Bethany verband das Datenkabel behelfsmäßig mit ihrem Tablet-PC und brachte in aller Eile Näheres über Loraine Cotton in Erfahrung, eine, allem Anschein nach, höchst reale Person. Sie war 1955 geboren, folglich also dreiundzwanzig Jahre alt, als sie unter dem Restaurant wohnte. Zu der Zeit hatte sie gerade ein Biologiestudium an der Oregon State University abgeschlossen, mit Schwerpunkt auf Wäldern als Ökosysteme, und war anscheinend nach Rum Lake gekommen, um die Redwoods zu erforschen, versehen mit einem Stipendium. Womit sich auch ihre Entscheidung für eine dermaßen deprimierende Unterkunft erklärte; wahrscheinlich war sie immer nur zum Schlafen in das Apartment zurückgekehrt, wenn überhaupt – möglicherweise hatte sie zeitweilig auch in den Wäldern gezeltet.
Im März 1979 dann hatte Loraine beruflich eine völlig andere Laufbahn eingeschlagen. Sie war nach Bellevue im Staate Washington gezogen, nördlich von hier, und hatte ganz unten bei einer kleinen Firma angefangen, die ihren Sitz erst kürzlich dorthin verlegt hatte: Microsoft. Nach einer steilen Karriere verfügte sie zur Jahrtausendwende über ein Vermögen von über einer halben Milliarde Dollar.
«Sie twittert auch», sagte Bethany. Sie rief die Seite auf und navigierte zu Loraines Profil. «Aber nicht sehr oft. Alle paar Tage mal. Der letzte Tweet stammt von vorgestern: Sie sei in Urlaub, schreibt sie – im Kings Canyon im australischen Outback.»
Travis schritt auf und ab, während er sich die Stirn massierte.
«Ein Gang unter der Dritten Kerbe», sagte er. «Suchen Sie dort nach Loraine Cotton in Apartment So-und-so. Die Botschaft aus der Pforte hat Ruben Ward hergeschickt, um hier mit ihr zusammenzutreffen. Fast so, als wäre sie als weitere Spielfigur ausersehen gewesen. Und zwar eine, die wesentlich länger halten würde als drei Monate.»
«Und nach einer gewissen Zeit über astronomische Geldmittel verfügen würde», ergänzte Paige. «Falls die Wesen auf der anderen Seite der Pforte zu jener Zeit bereits eine Abordnung auf unsere Seite geschickt hatten, erkannten sie vielleicht das Potenzial einer Firma wie Microsoft – selbst damals schon.»
«Dieses Potenzial haben aber auch viele andere Menschen damals schon erkannt», sagte Travis. «Die heute alle schwerreich sind und Privatinseln ihr Eigen nennen.»
Er blieb stehen. Starrte kurz auf den Boden, während er angestrengt nachdachte. Irgendetwas von dem, was sie gerade über Loraine Cotton herausgefunden hatten, hatte bei ihm ein Glöckchen klingeln lassen, aber er kam einfach nicht darauf, was genau. Er zermarterte sich noch ein paar Sekunden lang den Kopf, vergebens. Also ließ er die Sache vorläufig auf sich beruhen. Vielleicht würde es ihm ja irgendwann von selbst wieder einfallen.
Er sah auf die Uhr über Raines’ Kühlschrank. Halb eins. Noch sechs Stunden und fünfzehn
Weitere Kostenlose Bücher