Das Labyrinth der Zeit
versuchte, sich an die Auslösedistanz für den Annäherungszünder einer Patriot zu erinnern. Fünf Meter? Zehn? Spielte das noch eine Rolle? Das Ding kam mit mehr als doppelter Schallgeschwindigkeit auf ihn zugerast, und sein Gefechtskopf bestand aus einer hundert Kilogramm schweren Splitterbombe. Vergleichbar einer Handgranate also, von der Größe eines Fässchens allerdings.
Seine rechte Gehirnhälfte rief sich unterdessen hektisch das letzte Bild in Erinnerung, das er von seiner Tochter wahrgenommen hatte, als er am Vorabend das Haus verließ. Sie hatte in dem Ledersessel neben der Couch gesessen, in einem großen lila T-Shirt. Die Ponysträhnen hingen ihr halb über die Augen. Sie hatte ihn angesehen und gesagt, was sie immer zu ihm sagte, wenn er zum Stützpunkt aufbrach.
Sei vorsichtig.
Ein Abschiedsgruß, zwei Worte, die aber noch viel mehr bedeuteten, so, wie sie sie sagte – mit hoher, leiser Stimme, beide Augenbrauen hochgezogen. Damit sagte sie ihm zugleich: Ich hab dich lieb. Und auch: Ich werde dich immer liebhaben, auch wenn dir was passiert. All das wollte sie ihm damit sagen, das wusste er. Das bildete er sich nicht bloß ein.
Sei vorsichtig.
Diese beiden Worte, mit der Stimme seiner Tochter, waren Dennis Pikes letzter bewusster Gedanke.
Travis hatte kaum die erste Explosion gesehen, als etwa eine Viertelsekunde darauf auch schon die nächste erfolgte. Die erste Patriot explodierte dicht vor der Nase des Bombers und verwandelte alles, was sich vor den Flügeln befand, in eine einzige Teilchenwolke – die vom Rest des Flugzeugs umgehend überholt wurde. Die zweite Patriot, die von links unten herangezischt kam, explodierte direkt unterhalb des Backbordflügels, der sofort lichterloh in Flammen stand. Gleich darauf schwenkte der Steuerbordflügel, die einzige noch intakte Tragfläche, nach oben, zusammen mit dem gesamten Flugzeugrumpf, der eine Art Rolle linksherum beschrieb.
Und dabei kam, als würde mit großer Geste ein Vorhang beseitegerissen, eine Bombe zum Vorschein, die weniger als eine Sekunde zuvor aus dem Schacht gelöst worden war.
Travis nahm wahr, wie alles um ihn herum bestürzt nach Luft schnappte.
Die gelöste Waffe, die inzwischen auf mehreren Bildschirmen gleichzeitig zu sehen war, war lang und schlank wie eine Rakete, verfügte aber über keinen eigenen Antrieb. Sie schnellte einfach in einem geschmeidigen Bogen vorwärts, fort von dem weiter im Steigflug begriffenen Flugzeugrumpf, bis die Bombenspitze waagerecht in der Luft hing und dann nach und nach vornüberkippte. Im Moment des Aufpralls, das war abzusehen, würde ihre Nase lotrecht nach unten zeigen, und obwohl Travis eine solche Bombe noch nie zuvor gesehen hatte, wusste er sofort, womit sie es hier zu tun hatten.
Ein Bunkerknacker.
Das Hauptgewicht der Bombe, vorwiegend im vorderen Teil konzentriert, bestand demgemäß aus totem Metall, das nur die Funktion hatte, Erdreich und Beton zu durchschlagen. Der explosive Teil der Bombe würde so konstruiert sein, dass er erst detonierte, nachdem die Waffe eine gewisse Strecke unterhalb der Einschlagstelle zurückgelegt hatte. Nach welcher Strecke genau, entzog sich Travis’ Kenntnis, sicher war nur, dass die Bombe im Gebäudekomplex hochgehen würde und nicht darüber. Ob dabei auch nur einer von ihnen am Leben blieb, stand in den Sternen.
Er wandte sich nach rechts und stellte fest, dass Paige neben ihm stand, mit Bethany an ihrer Seite. Beide starrten angstvoll auf die Bildschirme, mit schreckgeweitetem Blick, während ihnen offenbar genau dasselbe durch den Kopf ging wie ihm. Keine von ihnen sagte etwas. Sie warteten einfach nur auf das Unvermeidliche, das jetzt in wenigen Sekunden bevorstand.
Aus dem Augenwinkel nahm Travis einen orangeroten Lichtschein wahr, der über die Bildschirme flackerte. Die letzten Patriot-Raketen hatten vereint den verstümmelten Rest des Bombers ins Visier genommen, der nun in einem einzigen Feuerball zur Erde trudelte. Jetzt begann der Boden der Abwehrzentrale leise summend zu vibrieren – die 30-mm-Kettenkanonen in der Wüste hatten sich geöffnet, obwohl sie wahrscheinlich gerade bloß das abstürzende Flugzeugwrack unter Beschuss nahmen. Travis schaute nicht hin, um zu sehen, ob auch welche auf den Bunkerknacker feuerten. Selbst wenn, konnte das Ungetüm dadurch wohl kaum aufgehalten werden.
Unmittelbar vor dem Einschlag der Bombe kam Travis ein absurdes Bild in den Sinn: Er sah den kleinen Tresor vor sich, der in die
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