Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)
kahle Fläche im linken Oberschenkel, wo eine schillernde Narbe von einer alten, nicht vernähten Stichwunde geblieben war. Das Gemächt war gewaltig und mußte zu Lebzeiten im Zustand der Erregung furchteinflößend gewesen sein. Bauch und Brust, ebenso behaart wie die Beine, wiesen zahlreiche vernarbte Wunden auf. Der Tote war massig, ich konnte aber kein Fett entdecken, nur Muskeln und Sehnen. Am Mittelfinger der rechten Hand fehlte das vordere Glied. dem linken Schlüsselbein gab es eine kleine Wunde, aus der ein Glasstück ragte.
»Schlechte Zähne«, sagte ich schließlich. »Die Wangen hat er sich zuletzt vor vier oder fünf Tagen geschabt. Ein erfahrener, starker Kämpfer, um die vierzig. Muß ich ihn jetzt auch noch umdrehen und von hinten betrachten, oder genügt dir das?«
Katona und bedeutete mir, ihm zu folgen. Als wir wieder in seiner Schreibstube saßen, rieb er den Rücken an der Wand und verschränkte die Arme.
»Wir können es kurz und schmerzlos machen«, sagte er. »Oder, wenn du das vorziehst, langsam und gründlich. Wer bist du, und was willst du wirklich in Dubrovnik?«
»Wie meinst du das?«
Er rümpfte die Nase. »Vor ein paar Tagen war ein spanisches Kriegsschiff hier. Kurz. Vorher hat es nördlich von Lopud in der Nacht ein Boot ausgesetzt, das ans Ufer gerudert und gleich wieder zurückgekommen ist. Am nächsten Tag war ein Fremder mit Fiedel in Trsteno. Jetzt ist er hier, und er hat offenbar schon viele Tote gesehen, so daß er sich vor ihnen nicht fürchtet. Spielmann, Krieger, Spion, Spanier, Deutscher, Venezianer – was bist du?«
»Lebendig«, sagte ich, »anders als der da.«
»Das ist nicht viel und kann sich schnell ändern. Hast du etwas gesehen, Spielmann?«
Ich zögerte nur kurz. Dieser Mann ohne Vornamen, Katona, von dem Bellini gesagt hatte, daß er hart und gut sei, war offenbar ziemlich gut; wie sollte ich mich verbergen, da ich bereits in seiner Gewalt war? Und Bellinis Frage, zu welcher Seite Katona sich neigen würde, ließe sich, wenn überhaupt, nur durch ein wenig Offenheit beantworten. Falls es eine eindeutige Antwort gab.
»Ich habe einen Mann gesehen«, sagte ich. »Als ich aus der Schänke kam, um Luft zu schnappen, standen ein paar Zuhörer vor der Tür. Der da saß an der Wand des Hauses gegenüber, und ein Mann, der neben ihm gehockt hatte, hat ihm auf die Schulter geklopft, wie zum Abschied, und ist gegangen.«
Katona zupfte an einem seiner Ohrläppchen, als wolle er es noch länger machen. »Was für ein Mann? Kannst du ihn beschreiben?«
»Sein Gesicht nicht; er hatte einen Hut auf, in der Gasse war es dunkel, bis auf ein wenig Licht aus der Schänke. Und er hat nicht aufgeschaut, als er gegangen ist. Aber er hat den linken Fuß schleifen lassen. Und er geht wie – wie ein Seemann oder einer, der sein halbes Leben auf dem Pferd verbracht hat.«
Katona machte mit beiden Händen etwas, was wie die Andeutung bogenartiger Beine aussah. »So etwa?«
»Ja.«
»Wie, meinst du, ist es geschehen?«
Ich hob die Schultern. »Vielleicht hat der Mann, der jetzt tot nebenan liegt, sich hingesetzt, um auszuruhen oder der Musik zu lauschen. Vielleicht hatte der andere ihn schon länger verfolgt; aufgelauert haben wird er ihm nicht gerade in dieser Gasse, und zufällig wird er kaum dort vorbeigekommen sein.«
Katona legte den Kopf schief. »Hm. Kann sein. Weiter.«
»Ich nehme an, er hat ihn verfolgt und auf eine Gelegenheit gewartet. Eine Gelegenheit, ihn ohne Zuschauer abzustechen. Oder jedenfalls ohne aufmerksame Zuschauer. Vielleicht kannte der Tote ihn. Sagen wir, er hat da gesessen und der Musik gelauscht, und weil noch mehr Leute da waren, ist er nicht so aufmerksam gewesen, wie er hätte sein sollen. Der Mörder hat gesehen, daß die anderen nicht auf ihn, sondern auf die Musik geachtet haben. Das, was der Tote in der Schulter stekken hat, ist ein Glasdolch. Ein Stich von oben ins Herz. Ein Ruck mit dem Handgelenk. Die Klinge bricht ab und bleibt stecken, deshalb fließt kaum Blut. In dem Augenblick komme ich aus der Schänke. Der Mörder klopft dem Toten auf die Schulter, steht auf und geht. So etwa?«
Katona schob die Unterlippe vor. »Ein gewisser Lorenzo würde dir jetzt etwas zu trinken anbieten, nicht wahr?«
»Ich würde es sogar annehmen. Und mich dabei an zwei oder drei andere Dinge erinnern.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel daran, daß ein Mann, dem die Kuppe des rechten Mittelfingers fehlt, ein alter Freund von Lorenzo
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