Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)
Schritt in einem von tausend leeren oder wassergefüllten Löchern enden konnte. Manchmal tasteten wir uns durch Winternebel, so dicht, daß die Kruppe des unmittelbar vor einem gehenden Pferds nur noch zu ahnen war; und fünf Tage lang hielt uns ein Schneesturm in einer Höhle fest.
Aber es gab auch klare, kalte Tage mit Ausblicken über das Land, die einen nach Luft schnappen ließen. Und es gab Dörfer, in denen wir für ein paar Münzen unseren Proviant ergänzen konnten. Räuber sahen wir nicht, und nur ganz selten stießen wir auf Türken. Einmal kam uns auf einem der schmalen Grate eine Gruppe mit Packtieren entgegen, und da sie zu zehnt und gut bewaffnet waren, mußten wir eine halbe Meile rückwärts gehen, um sie vorbeizulassen. Als sie den Grat hinter sich gebracht hatten, ging schon die Sonne unter, und wir lagerten mit ihnen auf einer beinahe kahlen Felsfläche. Sie wollten den ferman nicht sehen, fragten nur nach dem Zustand des Wegs und der Lage an der Küste; von ihnen erfuhren wir, wie weit es bis zum nächsten Dorf und zum nächsten türkischen Posten war, und daß wir verwegen oder wahnsinnig sein müßten, zu dieser Jahreszeit von der Küste nach Pristina zu reiten.
Zweierlei geschah unterwegs, abgesehen von solchen Begegnungen und Hungertagen und Eisnächten. Belgutais Kroatisch wurde immer besser – zwischendurch brachte er uns dafür ein paar Brocken Türkisch bei –, und Antonio gewöhnte sich an den zunächst ungeliebten Gefährten. Als wir uns etwas fließender unterhalten konnten, stellten wir fest, daß er wilde Geschichten zu erzählen wußte und einen sehr trockenen Witz besaß.
Wahrscheinlich hätten wir es uns einfacher machen können, aber zwischendurch gab es Gründe, bestimmte Strecken zu meiden. Nach etwa zwanzig mühseligen Meilen erreichten wir eine breitere Straße; sie verband die immer noch bemannte türkische Festung von Risano an der Bucht von Cattaro mit dem Norden. Im nächsten Dorf hörten wir, es gebe Räuber, und möglicherweise seien türkische Truppen damit beschäftigt, ihnen zu Beginn des Winters noch einmal gründlich zuzusetzen. Also Bergpfade, um nicht in die Auseinandersetzungen zu geraten. Vor Nikšic erzählte man uns, der türkische Befehlshaber des Orts habe die Anweisung erteilt, alle Reisenden festzusetzen bis zum Frühjahr, weil er keinerlei Verantwortung für die Straßen und die Sicherheit im Winter übernehmen wolle. Also Bergpfade, um das Reich dieses vorsichtigen Mannes zu umgehen. Berge, Täler, Flußläufe, der nächste Paß ...
Die letzten Tage vor Pristina waren für Antonio und Belgutai möglicherweise die besten, denn wir ritten auf einer auch im Winter gut zu bereisenden Straße ohne Hindernisse, mit größeren Orten und Rasthäusern. Die beiden ritten meistens nebeneinander und unterhielten sich angeregt. Ich bekam kaum etwas davon mit, auch nicht von der Gegend und den Ortschaften. Allerdings war ich wohl auch keine Last für sie; ich war einfach irgendwie nicht vorhanden.
Je näher wir dem Ziel kamen, desto mehr sog mich die Vergangenheit auf. Ich war erstaunt – später, rückblickend; während es geschah, war ich Teil der Vorgänge und unfähig, sie und mich von außen zu betrachten – über die Reichtümer der Erinnerung. Eigentlich kann nicht die Rede davon sein, daß es sich um »Vorgänge« gehandelt hätte oder etwas »geschehen« wäre; ich trieb im Strudel meiner Gedanken, sank durch die Schichten des Gedächtnisses, entsann mich jeder Unterredung mit Kassem, jeder seiner Gebärden, aller Handlungen in allen Städten und auf allen Schiffen, die wir damals gesehen, besucht und benutzt hatten; ich schmeckte jeden Bissen, der mit einem bestimmten Wort, einem Lächeln, einer Belehrung oder Ermunterung Kassems verbunden war, erinnerte mich an jeden Baum, an dem wir vorübergeritten waren. Und während ich all dies, lauter Einzelheiten, die ich längst vergessen zu haben glaubte, wieder und wieder belebte und in Gedanken betastete, befragte ich sie, befragte ich jede Miene Kassems, jedes seiner Lächeln und all seine Worte. Ich suchte in ihnen, hinter ihnen, zwischen ihnen nach einem Hinweis, einer verborgenen Andeutung, einer Erhellung. Er hatte ein ganzes Dorf auslöschen lassen, um meinen Vater zu töten, um Spuren zu verwischen, die mehrere Herrscher nicht hinterlassen wollten, damit keiner aus ihnen etwas lesen konnte. Mein Vater, meine Mutter, die Geschwister, die Nachbarn. Kassem und seine beiden Sklaven, Freunde,
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