Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)
Warum?«
Antonio zog zum hundertsten Mal seinen inzwischen etwas abgegriffenen ferman hervor. »Ich habe eine Nachricht aus Venedig für den Edlen. Unser Freund« – er legte die Hand auf Belgutais Schulter – »geleitet uns. Und der Mann aus dem fernen Deutschland ist ein alter Freund von Kassem.«
Der Offizier kniff die Brauen zusammen. »Der edle Kassem ist krank, sehr krank. Ich weiß nicht, ob er euch überhaupt noch empfangen kann. Aber wir wollen es versuchen. Kommt mit. Ah, und die Waffen laßt bitte hier.« Er deutete auf einen Tisch, der gleich hinter dem Eingang zum Palast zu sehen war.
Belgutai räusperte sich. »Ich Stadt Begängnis«, sagte er. »Später in Serai etwa?«
»Gut. Verlauf dich nicht.«
Er grinste mich an. »Verlaufen war bei Nacht. Jetzt wieder Sammlung gewaltige.«
Antonio und ich folgten dem Offizier. Nachdem wir unsere Waffen abgegeben hatten, führte er uns zu einer Treppe, hinauf ins erste Geschoß, einen langen Gang hinunter; schließlich blieben wir vor einer zweiflügligen Tür stehen.
Der Offizier klopfte, trat ein, wechselte ein paar Worte mit einem Diener und wandte sich dann an uns.
»Herr Kassem ist schwach. Ihr könnt ihn aufsuchen, aber nicht lange – wenige Atemzüge.«
»Wir danken«, sagte ich.
Er wies auf den Diener, drehte sich um und ging. Der Diener führte uns zu einer zweiten Tür, durch eine Art Vorzimmer, dann durch einen Raum, der eine üppig eingerichtete Schreibstube sein mochte. Aber ich hatte keine Augen für die Möbel und Teppiche; mein Herz klopfte bis unter die Schädeldecke.
Vor der nächsten Tür saß ein weiterer Diener auf einem dicken Lederkissen. Er erhob sich, hörte sich an, was der Mann zu sagen hatte, der uns führte, wackelte mit dem Kopf, seufzte und öffnete die Tür. Über dicke Teppiche gingen wir zu einem Lager, einer Bettstatt, die aus zwei Dutzend geschichteten Teppichen zu bestehen schien. Auf diesen, klein, geschrumpft, bleich, lag Kassem ben Abdullah. Mein Vater. Mörder meines leiblichen Vaters.
Ich trat zu ihm, beugte mich über ihn und sagte leise, auf arabisch: »Vater, dein verlorener Sohn sehnt sich nach deinem Blick.«
Etwas schnürte mir die Kehle zu; ich hatte Schwierigkeiten, die Wörter zu sagen. Ich wollte weinen, Kassems Hand küssen, den Dolch, den ich unten abgegeben hatte, in sein Herz stoßen, ihn zuvor um Vergebung bitten, ihn verfluchen, ihn preisen und peitschen.
Kassem öffnete die Augen. Einen Moment blickte er umher, dann fand er mein Gesicht. Ich sah eine Art Leuchten. Er hob die magere Hand. Sie zitterte, bis er sie an meine Wange legte. »Jakko«, sagte er, kaum hörbar, »Licht und Wohlgefallen.«
Die Hand fiel kraftlos zurück auf die Decke. Kassem seufzte, verdrehte die Augen und regte sich nicht mehr.
Die nächsten Stunden verbrachte ich damit, den Tod zu verfluchen, der mir alle Möglichkeiten genommen hatte, Fragen zu stellen und Antworten zu erhalten. Ich fühlte mich leer, erschöpft, wie nach einem langen Marsch oder einer verlorenen Schlacht.
Antonio versuchte nicht, mich aufzuheitern. Er blieb einfach bei mir, goß mir im Gasthaus den Becher voll, den ich immer wieder leerte. Der Kräutersud schmeckte wie müde Wolken, die nicht einmal mehr regnen können, und meine Gedanken waren langsame, warzige Kröten.
Dann stand der Offizier vor uns, der uns in den Palast geführt hatte; hinter ihm warteten vier Soldaten.
»Ihr seid festgenommen«, sagte er, mit einem Unterton des Bedauerns.
»Warum?« Antonio stand auf und tastete nach dem Degen, aber der lag in unserem Zimmer.
»Kassem ist gestorben, als ihr bei ihm wart. Man sagt, Kassem sei gestorben, weil ihr bei ihm wart. Deshalb.«
ACHTZEHN
Zwei Degen in Pristina
K ommt jetzt der Schandbube ins Spiel?« sagte Goran.
»Hast du noch etwas zu trinken?«
Es war ein scheußlicher Novembertag. Da die äußere Welt unbewohnbar schien, hatte ich tagsüber geschrieben und mich kurz vor dem Untergang der mutmaßlichen Sonne mit den beschriebenen Blättern zu ihm gesetzt. Während er las, hatte ich Wasser getrunken, schales Brot und einen verschrumpelten Apfel gegessen und auf die Meerenge geschaut. Grober Wind peitschte das Wasser schaumig und trieb Schneeregen gegen die Scheibe.
»Immer diese Wünsche.« Goran knurrte leise, stand auf und ging zum Herd. Am Vortag hatten wir versucht, Zimt und einige andere Gewürze aufzutreiben – vergebens; immerhin war es uns gelungen, bei einem Imker einen Rest Honig zu finden. Goran zerstieß
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