Das Labyrinth von Ragusa: Roman (German Edition)
Begleiter Jorgo und Avram hatten bei der Vernichtung des Dorfs zugesehen und danach mich, einen fünfzehnjährigen Jungen, mitgenommen, statt mich zu töten. Ich hatte nicht geahnt, daß Kassem etwas mit den Vorgängen zu tun hatte. Ich hatte mir die Gesichter der Hauptleute eingeprägt, um sie zu suchen, sobald ich dazu in der Lage sein würde. Kassem, Jorgo und Avram hatten mich gelehrt, mit Waffen und Menschen umzugehen, zu überleben; Kassem, der Vernichter, hatte mich angeleitet, in die Lage versetzt, die Werkzeuge zu vernichten, die er zur Vernichtung des Dorfs verwendet hatte. Warum all das? Ich kannte die Hintergründe, die zu den Befehlen geführt hatten; ich wußte, daß Kassem, Jorgo und Avram mich zu dem gemacht hatten, was ich war, geworden war, irgendwie immer noch bin.
Und je näher wir Pristina kamen, desto klarer wurde mir, daß ich wahrscheinlich gar keine Erhellung von ihm würde erhalten können. Ich hatte nach wie vor das undeutliche Gefühl, wenn ich wüßte, was Kassem gedacht und empfunden hatte, als er alle töten ließ und mich rettete, würde ich endlich begreifen, was die Welt ist. Warum Menschen sind, wie sie sind, und tun, was sie tun. Ordnung ... nein, keine Ordnung, aber so etwas wie eine Ahnung von Regelmaß im absurden Chaos des Daseins. Ein Labyrinth mag dem, der darin herumirrt, als absurdes Chaos erscheinen, aber es wurde gebaut, um zu verwirren, es hat einen Zweck und damit auch einen Sinn. Ich wollte wissen, welchen Sinn das Labyrinth von Kassems Denken und Handeln hatte; wenn ich dort eine Regel, eine Gesetzmäßigkeit fände, sagte ich mir, würde ich auch begreifen, warum Kaiser Karl Burgund von König François haben wollte und François die Lombardei von Karl, warum sie hunderttausend Leichen auftürmten, statt die beiden Lande ihres Begehrens einfach auszutauschen; ich würde begreifen, warum Menschen einander antaten, was ich bei der Plünderung Roms gesehen hatte, verstehen, was die Welt zusammenhält (falls etwas dies tut), erfassen, warum Eva von einer Schlange einen Apfel angenommen haben könnte, spüren, ob es jenseits all des Chaos, der Lust, des Grauens, der Wonne, des Entstehens und Vergehens einen Gott gibt.
Heute ... aber ich will nicht vorgreifen. Wir ritten nach Pristina, und ich ritt durch die fahlen Gefilde, in denen das Diesseits und das Jenseits einander berühren und sich vermischen.
Deshalb habe ich kaum Erinnerungen an die letzten Stücke des Wegs, ebenso wenig wie an Pristina. Ein paar huschende Eindrücke, die sich nicht festigen mögen, wenn ich versuche, sie im Gedächtnis zu betrachten. Wir kamen an, begaben uns in ein Rasthaus für Reisende und Fernhändler – eines jener Gebäude mit vielen Flügeln, Anbauten, Stallungen, Lagerräumen und allem, was nötig ist, Geschäfte, Vergnügen und Überleben so zu gestalten, daß man beim nächsten Aufenthalt im jeweiligen Ort nicht lange überlegen muß, ob man das gleiche oder ein anderes Quartier aufsuchen will.
Die erste genauere Erinnerung ist die an einen niedrigen, von Fackeln erhellten Raum, in dem Harz und Holz, Braten, Bier und Wein sich bemühen mußten, mit ihren Ausdünstungen die der Männer und der wenigen Frauen zu überlagern. Wir saßen an einem kleinen Tisch, aßen und tranken und redeten. Belgutai verfolgte eine der Schankmägde mit den Blicken; irgendwann seufzte er leise.
»Lange her?« sagte Antonio; seine Stimme klang nach Mitgefühl und zugleich nach Schwanken. Entschlossenheit vielleicht, dem Gefährten etwas zu gönnen, und Unentschlossenheit, ob er sich beteiligen oder ähnlich betätigen sollte.
»Zu lange.« Belgutai brachte es fertig, gleichzeitig zu lächeln und tieftraurig dreinzublicken. »Erinnerung aus früher Leben. Nicht mehr weiß, wie geht.«
Antonio lachte. »Das geht von selbst, wenn man einmal anfängt.«
Der Mongole stützte beide Ellenbogen auf den Tisch und legte das Kinn auf die Fäuste. »Nicht so einfach.«
»Was ist nicht so einfach?«
»Ich aus eure Tasche lebe«, sagte er.
Antonio runzelte die Stirn. »Ich bin der edle Herr mit dem ferman, ihr seid meine Diener, also habt ihr Anspruch auf Bezahlung.«
»Das hätten wir längst klären sollen«, sagte ich. »Haben wir noch genug Geld?«
Antonio schien im Geiste seine Münzen zu zählen. »Ich habe nicht mehr viel«, sagte er. »Wie steht’s mit dir?«
»Ein paar goldene Altun, eine Handvoll Asper und ein bißchen Kleinzeug. Banken, die einen Wechsel annehmen, wird es hier ja wohl
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