Das Labyrinth
weitere Unannehmlichkeiten regeln.«
»Oh, nein«, sagte Schiller. Er hielt Arkadi wie einen Siegespreis umklammert. »Wenn er deutsche Gesetze gebrochen hat, bleibt er in unserem Gewahrsam.«
Die Zelle hatte die Ausmaße einer finnischen Sauna, fünfzehn Quadratmeter weißer Bodenfliesen. Blaue Wandfliesen, ein Bett, eine Bank, in der Ecke eine Toilette. An der den Gitterstäben gegenüberliegenden Seite lag, zur Reinigung, ein zusammengerollter Schlauch. Arkadis Gürtel und Schuhbänder befanden sich in einem Schränkchen neben dem Schlauch. Ein uniformierter Polizist, kaum älter als ein junger Pionier, kam alle zehn Minuten vorbei, um sich zu vergewissern, daß Arkadi sich nicht an seiner Jacke aufgehängt hatte.
Nachmittags wurde ihm ein Päckchen Zigaretten durch die Stäbe gereicht. Seltsamerweise rauchte Arkadi nicht soviel wie früher, das Essen schien den Appetit seiner Lungen gedämpft zu haben.
Das Abendbrot traf auf einem unterteilten Plastikteller ein:
Rindfleisch in brauner Sauce, Knödel, Karotten mit Dill, Vanillepudding, ein Plastikbesteck.
Ludmilla war die Stimme am anderen Ende gewesen, als er die Faxnummer vom Bahnhof aus angerufen hatte. Und selbst wenn sie Rudi gekannt hatte, so hatte sie doch nicht gewußt, daß er tot war, als sie sich nach dem Roten Platz erkundigte.
Die durchschnittliche Größe eines einem russischen Gefangenen zugebilligten Lebensraums betrug fünf Quadratmeter, Arkadis Zelle war also eine luxuriöse Suite. Russische Zellen waren überdies Manuskripte. Die getünchten Wände waren mit persönlichen Nachrichten und öffentlichen Verkündigungen vollgekritzelt: »Die Partei trinkt das Blut des Volkes!«
»Dima wird die Ratten umbringen, die ihn hergebracht haben!«
»Dima liebt Seta!« Und mit Zeichnungen: Tiger, Dolche, Engel, vollbusige Frauen, erigierte Schwänze, Christusköpfe. Die Fliesen hier ließen sich nicht vollkritzeln. Die Aeroflot-Maschine war inzwischen gestartet. Gab es abends noch einen Lufthansa-Flug?
Als er seine Jacke zu einem Kissen zusammenrollte, fand Arkadi in der Innentasche einen Umschlag und las in zitteriger, nadelfeiner Schrift seinen eigenen Namen. Es war der Brief seines Vaters, den Below ihm zugesteckt hatte und den er seit mehr als einer Woche wie eine vergessene Giftkapsel mit sich herumgetragen hatte, von einem russischen Grab bis in eine deutsche Zelle. Er knüllte das Papier zu einer Kugel zusammen und warf es in Richtung Gitter. Aber statt hindurchzufliegen, traf es einen der Stäbe und rollte zum Abfluß in der Mitte des Raumes. Er warf noch einmal, wieder prallte es ab und rollte vor seine Füße.
Das Papier raschelte. Welche Abschiedsworte hatte General Renko ihm zugedacht? Nach einem Leben voller Verwünschungen - welcher letzte Fluch? Im Krieg zwischen Vater und Sohn - welcher letzte Schlag?
Arkadi erinnerte sich an die Lieblingsausdrücke seines Vaters. »Muttersöhnchen«, als Arkadi ein kleiner Junge war.
»Spinner«, »Schwuler«, »Hosenscheißer« und »Eunuch«, als er Student war. Natürlich »Feigling«, als Arkadi sich weigerte, Offizier zu werden. Und von da an immer nur »Versager«.
Was für Ehrentitel hatte er sich aufgespart? Die Toten waren den Lebenden gegenüber in einem gewissen Vorteil.
Arkadi hatte seit Jahren nicht mehr mit seinem Vater gesprochen. War der tiefste Punkt seiner Laufbahn in diesem Fliesenloch der richtige Augenblick, seinem Vater Gelegenheit zu geben, zu einem letzten, posthumen Schlag auszuholen? Die Situation war irgendwie komisch.
Arkadi glättete den Umschlag auf dem Fußboden. Er zupfte eine Ecke los, steckte den Finger hinein und öffnete vorsichtig die Klappe. Er wäre keineswegs überrascht gewesen, hätte sein Vater eine Rasierklinge im Umschlag versteckt. Nein, dieser Brief selbst würde die Klinge sein. Was waren die Worte, die ihn am tiefsten treffen konnten? Was konnte ihn noch vom Grab aus in den Ohren gellen?
Arkadi blies in den Umschlag, und sein Atem brachte ein zwiebelschalendünnes Stück Papier zum Vorschein. Er glättete es und hielt es ans Licht. Die Schrift war so dünn und schwach, das letzte Zittern eines Sterbenden, mit einer Hand geschrieben, die kaum die Feder hatte halten können. Der General hatte es nicht fertiggebracht, mehr als ein Wort zu kritzeln: »Irina«.
Der nächtliche Verkehr auf der Leopoldstraße war eine Linie aus Scheinwerfern, Glas und Chrom, die sich zwischen Straßencafes hindurchwand.
Peter Schiller zündete sich eine
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