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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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den Rat eines Freundes, der Pilzsammler war - die Finger von denen zu lassen, die von toten Fliegen umgeben waren. Er nahm sich vor, darauf zu achten, wenn er den Ladentisch erreicht hatte.
    Eine weit längere Schlange, ausschließlich aus Männern bestehend, stand vor einem Wodkaladen an der Ecke. Betrunkene lehnten aneinander wie zerbrochene Pfähle in einem Zaun. Ihre Mäntel waren zerlumpt und grau, die Gesichter rot und blau gefleckt, und sie umklammerten ihre leeren Flaschen in der traurigen Gewißheit, daß nur im Austausch gegen ihre leere eine neue Flasche über den Ladentisch wandern würde. Sie mußte außerdem die richtige Größe haben: nicht zu klein, nicht zu groß. Dann mußten sie an der Tür postierte Milizionäre passieren, die die Bezugsscheine darauf prüften, ob nicht Ortsfremde Wodka zu kaufen versuchten, der nur für Moskau bestimmt war. Während Arkadi zuschaute, verließ ein zufriedener Kunde den Laden, seine Flasche wie ein rohes Ei an der Brust bergend, und die Schlange rückte weiter vor.
    Arkadis Schlange wurde dadurch aufgehalten, daß zwei Arten Piroggen zur Wahl standen: Fleisch- und Krautpiroggen. Da die Füllung nicht mehr war als ein Verdacht - ein zarter soupqon von Hackfleisch oder gedämpftem Kohl, eine schmale Linie im Teig, zunächst in siedendes Öl getaucht und dann zum Abkühlen beiseite gestellt, um sich zu verfestigen -, war es eine Wahl, die nicht nur Hunger, sondern darüber hinaus einen feinen Gaumen erforderte.
    Auch die Wodka-Schlange war stehengeblieben, aufgehalten durch einen Kunden, der auf dem Weg in den Laden ohnmächtig geworden war und sein Leergut fallen gelassen hatte. Die Flasche klirrte, als sie in den Rinnstein rollte.
    Arkadi fragte sich, was Irina wohl machte. Den ganzen Morgen hatte er sich nicht eingestehen wollen, daß er an sie dachte. Jetzt, bei dem Klirren der Flasche, verwirrt durch das Ungewöhnliche des Geräusches, stellte er sich vor, wie sie zu Mittag aß, nicht irgendwo auf der Straße, sondern in einer westlichen, chromglänzenden Cafeteria mit hellerleuchteten Spiegeln und Teewagen, die mit weißen Porzellantassen leise durch die Gänge zwischen den Tischen rollten.
    »Fleisch oder Kraut?«
    Er brauchte einen Augenblick, ehe er in die Wirklichkeit zurückfand.
    »Fleisch? Kraut?« wiederholte die Verkäuferin und hielt zwei völlig gleich aussehende Piroggen hoch. Ihr Gesicht war rund und grob, die Augen umgeben von kleinen Fältchen.
    »Nun machen Sie schon, die anderen wissen doch auch, was sie wollen.«
    »Fleisch«, sagte Arkadi. »Und Kraut.«
    Sie grunzte, eher Unentschlossenheit als Appetit spürend. Vielleicht war das sein Problem, dachte Arkadi, Mangel an Appetit. Sie gab im das Wechselgeld heraus und reichte ihm die beiden Piroggen in vor Fett triefenden Papierservietten. Er blickte auf den Ladentisch. Keine toten Fliegen, aber die herumsummenden hatten etwas zutiefst Deprimierendes.
    »Wollen Sie sie nun oder nicht?« fragte die Verkäuferin.
    Arkadi sah immer noch Irina vor sich, fühlte den warmen Druck ihrer Haut und roch nicht das ranzige Fett, sondern die Sauberkeit raschelnder Laken. Waren es progressive Stadien des Wahns, oder war es Irina, die da tatsächlich aus Vergessenheit und Unbewußtem in die bewußten Bereiche seines Geistes vordrang?
    Als die Verkäuferin sich über den Ladentisch beugte, fand eine Verwandlung statt. In der Mitte ihres Gesichts erschien das, was übriggeblieben war von der Schüchternheit des einstmals jungen Mädchens, von den traurigen, zwischen den Wangenknochen verlorenen Augen, und sie zuckte, wie um Verzeihung bittend, mit den runden Schultern.
    »Mampfen Sie sie weg, und denken Sie nicht weiter darüber nach. Ich kann Ihnen nichts Besseres bieten.«
    »Ich weiß.«
    Als Jaak mit dem Mineralwasser kam, drängte Arkadi ihm beide Piroggen auf.
    »Nein, danke.« Jaak wich zurück. »Früher hab ich die Dinger mal ganz gern gemocht, bevor ich für dich zu arbeiten begann. Du hast sie mir verdorben.«
    Hinter der langen Schaufensterfront eines Geschäftes in der Butyrski-Straße, das Damenunterwäsche und Spitzen im Angebot hatte, stand ein Gebäude mit vergitterten Fenstern und einer Auffahrt, die an einem Wachthäuschen vorbei zu einer Eingangstreppe führte. Drinnen gab ein Beamter Arkadi und Jaak je ein numeriertes Aluminiumschildchen, und sie folgten einem Wärter über eine gummigenoppte Treppe hinunter in einen stuckverkleideten Flur, der von Glühbirnen in Drahtkörben erleuchtet

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