Das Labyrinth
Chefinspektor?« Sie klang, als hätte sich die anfängliche Überraschung bereits in Verdruß verwandelt.
»Ja.«
»Warum bist du hier?« fragte sie. »Ein Fall.«
»Gratuliere. Wenn sie dich ausreisen lassen, müssen sie viel Vertrauen zu dir haben.«
»Ich habe dich in Moskau gehört.«
»Dann weißt du auch, daß ich in zwei Stunden eine Sendung habe.« Papier raschelte im Hintergrund, um darauf hinzuweisen, wie beschäftigt sie war.
»Ich würde dich gern sehen«, sagte Arkadi.
»Vielleicht nächste Woche. Ruf mich an.«
»Ich meine bald. Ich werde nicht lange hiersein.«
»Das paßt mir schlecht.«
»Heute«, sagte Arkadi. »Bitte.«
»Tut mir leid.«
»Irina.«
»Also zehn Minuten«, sagte sie, nachdem sie absolut klargemacht hatte, daß er wirklich der Letzte war, den sie auf dieser Erde sehen wollte.
Ein Taxi fuhr Arkadi zu einem Park. Der Fahrer zeigte ihm einen Weg, der zu langen Tischen, Kastanien und einem pagodenförmigen, fünf Stockwerke hohen Holzpavillon führte. Irina hatte ihm gesagt, er solle nach dem »Chinesischen Turm« fragen.
Im Schatten von Buchen trugen Besucher riesige Bierkrüge und Pappteller zu ihren Tischen, die unter dem Gewicht von Brathähnchen, Rippchen und Kartoffelsalat schwer durchhingen. Selbst die Küchenabfälle, deren Duft zu ihm hinübergetragen wurde, rochen nicht übel. Das Plätschern der Gespräche um ihn her und das gemächliche Essen hatten etwas Träge-Sinnliches. Diese Stadt und das Leben in ihr erschienen nach wie vor ziemlich unwirklich. Arkadi hatte plötzlich das Gefühl, sich nicht etwa selbst in einem Traum zu bewegen, sondern der Alptraum eines anderen zu sein, der die wirkliche Welt heimsuchte.
Er hatte gefürchtet, Irina nicht wiederzuerkennen, aber sie war nicht zu verfehlen. Ihre Augen schienen allerdings ein wenig größer und irgendwie dunkler. Nach wie vor hatte sie die Fähigkeit, wie selbstverständlich alles Licht auf sich zu lenken. Ihr braunes Haar war kürzer und rötlicher, und es bildete einen festen Rahmen um ihr Gesicht. Sie trug ein goldenes Kreuz auf einem schwarzen, kurzärmeligen Pullover. Keinen Ehering.
»Du hast dich verspätet.« Sie gab Arkadi die Hand.
»Ich wollte mich noch rasieren«, sagte er. Er hatte Wegwerfklingen gekauft und war damit auf die Bahnhofstoilette gegangen. Schnitte am Kinn verrieten seine Eile.
»Wir wollten gerade gehen«, sagte Irina.
»Es ist lange her«, sagte Arkadi.
»Stas und ich müssen eine Sendung vorbereiten.« Sie schien weder nervös noch glücklich zu sein, ihn wiederzusehen, nur bedrängt von der vor ihr liegenden Arbeit.
»Wir haben noch Zeit.« Ein Mann, der nur aus Haut und Knochen zu bestehen schien, tauchte mit drei Krügen schäumenden Biers auf. Er trug einen weiten Pullover, ausgebeulte Hosen und hatte helle, tuberkulöse Augen. Arkadi sah sofort, daß er Russe war. »Ich bin Stas. Soll ich Sie Genosse Chefinspektor nennen?«
»Arkadi genügt.«
Das Skelett im Pullover setzte sich neben Irina und legte seine Hand hinter ihr auf den Stuhl.
»Darf ich?« Arkadi nahm den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches und sagte zu Irina: »Du siehst wunderbar aus.«
»Du siehst auch gut aus«, sagte Irina. »Ich glaube nicht, daß das Moskau zuzuschreiben ist«, sagte Arkadi.
Stas hob seinen Krug und sagte: »Prost. Die Ratten verlassen also das sinkende Schiff. Alle kommen sie her, und die meisten versuchen, für immer zu bleiben. Versuchen, für Radio Liberty zu arbeiten, wir sehen sie jeden Tag. Nun, wer kann ihnen schon einen Vorwurf daraus machen?« Er beobachtete ein üppig gebautes Mädchen, das die leeren Krüge einsammelte. »Von Walküren umsorgt. Was für ein Leben!«
Arkadi nahm aus Höflichkeit einen Schluck. »Ich habe gehört, daß …«
»Sie hatten ja wirklich eine ziemlich sprunghafte Laufbahn«, unterbrach Stas ihn. »Mitglied der Goldenen Jugend Moskaus, Mitglied der Kommunistischen Partei, aufsteigender Stern des Oberstaatsanwalts, Held, der unsere liebe Dissidentin Irina gerettet hat, jahrelange Verbannung in Sibirien als Buße für die anständige Tat - und jetzt nicht nur das Hätschelkind des Oberstaatsanwalts, sondern auch sein Botschafter in München mit dem Auftrag, Irina, die verlorene Geliebte, zur Strecke zu bringen. Auf die Liebe!«
Irina lachte. »Er scherzt nur.«
»Ich verstehe«, sagte Arkadi.
Es war komisch. Bei seinen Verhören war er nackt gewesen, war mit dem Wasserschlauch abgespritzt, beleidigt und geschlagen worden, aber
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