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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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trug die graue Mütze eines Generals. Er erinnerte sich an den Zug, den er auf dem Kasan-Bahnhof gesehen hatte, mit dem bis zur Hüfte nackten Mann auf dem Führerstand und der Frau, die ihm den Arm auf die Schulter gelegt hatte, und er fragte sich, wo sie jetzt wohl sein mochten. Auf einem Güterzug in Moskau? Auf einer Fahrt durch die Steppe?
    Er kehrte zum Bett zurück und öffnete seine Reisetasche. Aus der Tasche seiner zerknitterten Hose, zog er Penjagins handgeschriebene Liste mit den drei Telefonnummern, das letzte Fax, das bei Rudi angekommen war, und das Foto von Rita Benz. Einer zusammengerollten Jacke entnahm er das Videoband. Seine Reisegarderobe paßte auf einen Bügel und in eine Schublade. Er schob die Liste, das Fax und das Foto in die Kassette des Videobands. Das war sein Schatz und sein Schild. Dann zählte er das Geld, das er Penjagin entlockt hatte. Einhundert Mark. Wie lange kam ein gewöhnlicher Tourist in Deutschland damit aus? Einen Tag? Eine Woche? Es würde wohl des Geizes eines Paranoikers bedürfen, um damit länger zu überleben.
    Mit der Kassette in der Tasche seines Hemds verließ Arkadi die Pension und überquerte die Straße zum Bahnhof, der von außen aussah wie ein gewaltiges, modernes Museum. Licht sickerte durch Milchglas, und im Inneren nisteten Tauben. Keine Kasan-Banden in schwarzen Jacken, kein schläfrig flimmernder Fernsehschirm, keine Traumbar. Statt dessen Zeitungsläden und ein Restaurant, Süßigkeiten und Feinkost, ein Kino mit erotischen Filmen. In einem Laden wurden Landkarten mit französischen, englischen und italienischen, leider aber nicht mit russischen Übersetzungen verkauft. Mit der englischen Ausgabe in Händen folgte Arkadi den vielen Menschen, die aus dem Haupteingang strömten.
    Der Geruch nach gutem Kaffee und Schokolade, der aus einem Cafe drang, ließ ihn fast weich in den Knien werden, aber er war so wenig gewöhnt, in Restaurants oder überhaupt zu essen, daß er weiterging - in der Hoffnung, irgendwo auf einen Eisverkäufer zu stoßen. Er konzentrierte sich nicht auf die Schaufenster, sondern auf das, was sich in ihnen spiegelte. Zweimal betrat er ein Geschäft und verließ es sofort wieder, um zu sehen, ob ihm jemand folgte. Ein Tourist schaut sich die Sehenswürdigkeiten an. Arkadi jedoch sah die Welt wie durch einen Tunnel, der Brunnen, Gebäude und Statuen ausschloß, um seinen Blick auf ein verdächtiges russisches Gesicht, einen wiegenden Gang oder irgendeine verräterische Gewohnheit zu lenken. Der Klang der deutschen Sprache um ihn herum verwirrte ihn. Und dann war es, als erwachte er, als er einen großen Platz erreichte, der umgeben war von prächtigen Gebäuden mit schönen Fassaden und teilweise stufenförmigen Giebeln. An einer Seite des Platzes stand das Rathaus aus grauen, neugotischen Steinen. Hunderte von Menschen schlenderten umher, saßen auf Stühlen oder bewunderten das Glockenspiel, das Arkadi von Rudis Video kannte, dessen Figuren sich aber im Moment nicht bewegten. Arkadi drehte sich um und betrachtete die Leute: Geschäftsleute mit Anzügen in gedämpften Farben und dazu passenden seidenen Krawatten, die Frauen modisch elegant und nicht in bedrückendes Schwarz gekleidet, Knaben in T-Shirts, kurzen Hosen und überall leuchtendbunte Farben. Die Lautstärke der Stimmen schwoll an. In einem Buchladen an einer Ecke wurden auf drei Stockwerken Bücher verkauft. Ein anderes Geschäft war von Tabakduft erfüllt. Das heftige Aroma von Bier drang aus dem geöffneten Eingang einer Gastwirtschaft. Eine goldene Jungfrau blickte von einer Marmorsäule herunter.
    Arkadi kaufte sich ein Eis in einer tütenförmigen Waffel, wobei er seine Wahl weniger durch sein mangelhaftes Deutsch als durch Gesten zum Ausdruck brachte. Das Eis schmeckte wie pure Sahne. Er gab vier Mark für Zigaretten aus. Er hatte Bekanntschaft mit München geschlossen. Im Untergeschoß des Platzes löste er einen Fahrschein, steckte ihn in einen Apparat, der ihn klingelnd abstempelte, und sprang in den ersten Zug, der ihn dahin zurückbrachte, von wo er gekommen war.
     
    Zwei Türken hielten sich an den Haltegriffen neben Arkadi fest, beide mit einem versunkenen Blick. Auf dem Sitz vor ihm saß eine Frau mit einem Schinken, der auf ihren Knien wie ein Baby hin- und herschaukelte.
    Wie standen die Chancen, daß er verfolgt wurde? Nicht sehr hoch angesichts der Schwierigkeit, jemandem in einer Großstadt auf den Fersen zu bleiben. Ein argwöhnisches, bewegliches

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