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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Moskau war sie eine Flamme im Wind gewesen, offen und freimütig, eine Gefahr für alle in ihrer Nähe. Die Frau, zu der Irina mittlerweile geworden war, war älter und beherrschter. »Die Königin der russischen Emigranten« wartete nur darauf, daß Stas sein Bier austrank, um gehen zu können.
    »Bist du gern in München?« fragte Arkadi sie.
    »Verglichen mit Moskau? Verglichen mit Moskau ist es schön, sich in Glassplittern zu wälzen. Verglichen mit New York oder Paris? Es ist angenehm hier, aber ein wenig ruhig.«
    »Das hört sich an, als ob du bereits überall gewesen wärst.«
    »Und du, magst du München?« fragte sie ihn.
    »Verglichen mit Moskau? Verglichen mit Moskau ist es schön, sich in Deutscher Mark zu wälzen. Verglichen mit Irkutsk oder Wladiwostok? Es ist wärmer.«
    Stas setzte seinen leeren Krug ab. Arkadi hatte noch nie jemanden, der so dünn war, so schnell ein Bier austrinken gesehen. Sogleich erhob sich Irina, um ins wirkliche Leben zurückzueilen.
    »Ich würde dich gern wiedersehen«, sagte Arkadi gegen seinen Willen.
    Irina musterte ihn. »Nein. Was du von mir willst, ist, daß ich sage, wie leid es mir tut, daß du nach Sibirien mußtest, wie leid es mir tut, daß du um meinetwillen leiden mußtest. Ja, Arkadi, es tut mir leid. Bitte, jetzt habe ich es gesagt. Sonst, glaube ich, haben wir uns nichts mehr zu sagen.« Damit ging sie.
    Stas zögerte. »Ich hoffe, daß Sie ein gottverdammter Hurensohn sind. Ich hasse es, wenn der Blitz den Falschen trifft.«
    Groß, wie sie war, schien Irina zwischen den Tischen hindurchzusegeln, das Haar wie eine hinter ihr herwehende Flagge.
    »Wo hat man Sie untergebracht?« fragte Stas.
    »Gegenüber vom Bahnhof.« Arkadi nannte die Adresse.
    »Eine Art Müllplatz«, sagte Stas überrascht.
    Irina verschwand hinter einer Gruppe von Menschen, die gerade an der anderen Seite des Turms eingetroffen war.
    »Danke fürs Bier«, sagte Arkadi.
    »Keine Ursache.« Stas folgt Irina, mit einem Humpeln den Tischen ausweichend, das mehr Ausdruck einer Entschlossenheit als ein Handikap zu sein schien.
    Arkadi blieb sitzen, er fürchtete, daß ihm schwindelig würde, wenn er sich erhob. Er hatte das Gefühl, von einem Lastwagen überrollt worden zu sein. Die Tische blieben nie lange leer, und er fühlte sich geborgen in diesem Biergarten. Das Bier hatte eine besänftigende Wirkung, führte zu ruhigen, vernünftigen Gesprächen. Junge und alte Paare tranken einander zu. Männer mit buschigen Augenbrauen konzentrierten sich auf mitgebrachte Schachbretter. Der Turm mit der Blaskapelle war so chinesisch wie eine Kuckucksuhr. Der Chefinspektor war in eine Stadt gekommen, in der ihn niemand kannte, in der er weder willkommen noch unwillkommen war. Er war unsichtbar. Er trank sein Bier.
    Was wirklich schrecklich, wirklich beängstigend war, war die Tatsache, daß er Irina wiedersehen wollte. So demütigend die Erfahrung auch gewesen war, er würde sie gern noch ein weiteres Mal auf sich nehmen, nur, um bei ihr zu sein - was eine Neigung zum Masochismus enthüllte, von der er bislang nicht gewußt hatte. Ihre Begegnung war so grotesk verlaufen, daß es beinahe komisch war. Diese Frau, diese Erinnerung, die er in der tiefsten Kammer seines Herzens bewahrt und nach so langer Zeit wiedergefunden hatte, schien sich kaum seines Namens zu entsinnen. Das war ein Mißverhältnis der Gefühle, das - um ihren Ausdruck zu benutzen - fast schon amüsant war. Oder ein Symptom geistiger Verwirrung. Wenn er unrecht hatte mit dem, was Irina betraf, so hatte er vielleicht auch unrecht mit dem, was die Vergangenheit betraf, die er mit ihr zu teilen glaubte. Gedankenverloren strich er sich mit den Fingerkuppen über den Bauch und fühlte die Narbe unter dem Hemd. Aber was bewies das? Vielleicht hatte er sich irgendwann selbst mit einem Regenschirm verletzt, eines Tages, auf dem Weg zur Schule, oder er war von einer niederstürzenden Statue Lenins aufgespießt worden. Auf den meisten seiner Statuen wies Lenin in die Zukunft. Ein wohlbekannter, gefährlicher Finger. »Was erheitert Sie so?«
    »Pardon?« Arkadi schreckte aus seinen Gedanken auf.
    »Was erheitert Sie so?« Der Platz auf der anderen Seite des Tisches war von einem großen Mann mit gerötetem Gesicht und einem frisch gebügelten, weißen Hemd eingenommen worden. Ein kleiner Filzhut saß ihm auf dem Kopf, in der einen Hand hielt er ein Bier, die andere lag schützend vor einem Brathähnchen. Arkadi bemerkte erst jetzt, daß der

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