Das Labyrinth
Zielobjekt zu überwachen, erforderte in der Sowjetunion fünf bis zehn Fahrzeuge und dreißig bis hundert Leute. Arkadi hatte damit allerdings keinerlei Erfahrung, da er nie genügend Leute und Fahrzeuge gehabt hatte.
Im Untergeschoß des Hauptbahnhofs hingen einzelne Telefone in einer offenen Schale. Oben in der Halle jedoch, eine offene Treppe hinauf, auf einer Art Empore, von der er auf die Züge hinuntersah, fand er Apparate, wo er ganz für sich war. In Moskau waren Telefonbücher so begehrt, daß sie in Safes verwahrt wurden, hier hingen sie an Ständern.
Die Telefonbücher waren für ihn wegen der Gleichheit und Seltsamkeit deutscher Namen - voller Konsonanten, die miteinander zu kämpfen schienen - und der vielen Anzeigen verwirrend. Unter »Benz« fand er nur einen Boris, der in der Königinstraße wohnte. Er fand keinen Eintrag für eine Firma namens TransKom.
Die Telefonzelle hing unter einer runden, durchsichtige Kunststoffschale. Arkadi glaubte, genug Deutsch zu sprechen, um die Auskunft anzurufen. Soweit er verstand, war eine Firma TransKom nicht bekannt.
Dann rief er Boris Benz an.
Eine Frau meldete sich. »Ja?«
Arkadi sagte: »Herr Benz?«
»Nein.« Sie lachte.
»Herr Benz ist im Haus?«
»Nein. Herr Benz ist verreist. Auf Urlaub.«
»Urlaub?«
»Er kommt erst in zwei Wochen zurück.«
»Wo ist Herr Benz?«
»In Spanien.«
»Spanien?« Zwei Wochen in Spanien? Keine gute Nachricht.
»Spanien, Portugal, Marokko.«
»Nix Rußland?«
»Nein. Er ist in die Sonne gefahren.«
»Kann ich sprechen mit TransKom?«
»TransKom?« Der Name schien der Frau unbekannt zu sein. »Ich kenne keine TransKom.«
»Sie ist Frau Benz?«
»Nein, die Putzfrau.«
»Danke.«
»Auf Wiedersehen.«
Einfacher können sich zwei Menschen nicht unterhalten, dachte Arkadi, als er auflegte, es sei denn, sie zeichnen Bilder auf. Die einzig brauchbare Information, die er bekommen hatte, war die, daß Benz in den Süden gefahren war. Offensichtlich eine deutsche Angewohnheit. Wenn Benz zurück nach München kam, würde Arkadi wahrscheinlich wieder in Moskau sein. Er zog Rudis Fax heraus und wählte die Nummer, die oben auf der Seite stand.
»Hallo«, meldete sich eine Frau auf russisch.
»Ich rufe wegen Rudi an«, sagte Arkadi.
Nach einer Pause: »Rudi wer?«
»Rosen.«
»Ich kenne keinen Rudi Rosen.« Es war etwas Schluriges in ihrer Stimme, als ob sie die Zigarette nicht aus dem Mund genommen hätte.
»Er sagte, Sie wären am Roten Platz interessiert.«
»Wir alle sind am Roten Platz interessiert. Was ist also?«
»Ich dachte, Sie würden gern wissen, wo er ist.«
»Soll das ein Scherz sein?«
Sie legte auf. Tatsächlich hatte sie sich so benommen, wie jeder normale Mensch sich benehmen würde, wenn man ihm eine derartig dumme Frage stellte, dachte Arkadi. Kein Grund, ihr einen Vorwurf zu machen.
Er fand einen Raum mit Schließfächern für zwei Mark am Tag. Er streifte noch einmal durch die Halle, bevor er zurückkehrte, die Münzen in den Schlitz warf, die Kassette in ein leeres Fach legte und den Schlüssel in die Tasche steckte. Jetzt konnte er in die Pension zurückgehen oder sich wieder auf die Straße begeben, ohne Angst haben zu müssen, in dem verwirrten Zustand, in dem er sich befand, das Beweisstück zu verlieren, das von so großem Wert für ihn war. Oder so geringem, wenn man bedachte, wie wenig Zeit ihm blieb - was Platonow anbetraf, nur ein Tag.
Er kehrte zu seiner Telefonzelle zurück, öffnete das Münchener Buch, blätterte bis »R« und »Radio Liberty - Radio Freies Europa«. Als er die Nummer gewählt hatte, meldete sich jemand nur mit: »RL - RFE.«
Arkadi bat auf russisch, mit Irina Asanowa verbunden zu werden, dann wartete er eine Ewigkeit, wie ihm schien, bevor sie in der Leitung war.
»Hallo?«
Er hatte geglaubt, auf diesen Augenblick vorbereitet gewesen zu sein, aber er war so überrascht, sie tatsächlich zu hören, daß er nicht reden konnte.
»Hallo. Wer ist am Apparat?«
»Arkadi.«
Er erkannte ihre Stimme, aber schließlich hatte er auch ihre Sendungen gehört. Es gab keinen Grund, daß sie sich an ihn erinnerte.
»Arkadi wer?«
»Arkadi Renko. Aus Moskau«, fügte er hinzu. »Du rufst aus Moskau an?«
»Nein. Ich bin in München.«
Sie blieb so still, daß er dachte, die Leitung sei unterbrochen worden.
»Erstaunlich«, sagte Irina schließlich.
»Kann ich dich sehen?«
»Ich habe gehört, daß sie dich rehabilitiert haben. Bist du immer noch
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