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Das Labyrinth

Das Labyrinth

Titel: Das Labyrinth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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er hatte sich nie so gedemütigt gefühlt wie an diesem Tisch. Abgesehen von seiner schlechten Rasur, war sein Gesicht vermutlich krebsrot. Alles wies darauf hin, daß er verrückt war. Offensichtlich war er schon seit Jahren verrückt, wenn er sich eine Verbindung mit dieser Frau hatte vorstellen können, die augenscheinlich nicht einmal dieselben Erinnerungen mit ihm teilte. Welche Erinnerungen hatte er bewahrt an die Zeit mit ihr - die Tage, in denen sie sich in seiner Wohnung verborgen gehalten hatte, die Schießerei, New York? In der Einzelzelle in der Psychiatrie, als die Ärzte Sulfazin in sein Rückgrat injiziert hatten, hatten sie ihm gesagt, er sei verrückt, und jetzt, hier beim Bier, stellte sich heraus, sie hatten recht gehabt. Er sah Irina an und wartete auf eine Reaktion, aber sie behielt den Gleichmut einer Statue bei.
    »Nimm es nicht persönlich. Das ist so seine Art.« Sie nahm eine von Stas’ Zigaretten, ohne ihn zu fragen. »Arkadi, ich hoffe, daß du dich in München amüsierst. Es tut mir leid, daß ich keine Zeit für dich habe.«
    »Es ist ein Jammer.« Arkadi trank darauf.
    »Aber du hast Freunde im Konsulat und wirst mit deinem Fall beschäftigt sein. Du warst schon immer ein Arbeitstier«, sagte Irina.
    »Verrückt nach der Arbeit«, sagte Arkadi.
    »Es muß eine schwere Verantwortung sein, Moskau zu repräsentieren. Der Oberstaatsanwalt zeigt sich den Deutschen durch dich von seiner menschlichen Seite.«
    »Das ist nett, daß du das sagst.« Repräsentierte er Rodionows menschliche Seite? War es das, was sie dachte?
    »Das erinnert mich daran«, sagte Stas, »daß wir die Verbrechensrate in Moskau auf den letzten Stand bringen sollten.«
    »Zum Schlimmeren hin?« fragte Arkadi. »Genau.«
    »Ihr arbeitet zusammen?« fragte Arkadi. Irina sagte: »Stas schreibt die Nachrichten, ich verlese sie nur.«
    »Wohltönend«, sagte Stas. »Irina ist die Königin der russischen Emigranten. Sie hat die Herzen von New York bis München und auf allen Stationen dazwischen gebrochen.«
    »Stimmt das?« fragte Arkadi.
    »Stas ist ein Provokateur.«
    »Vielleicht hat ihn das zum Schreiben gebracht.«
    »Nein«, sagte Irina. »Das hat ihn dazu gebracht, bei Demonstrationen auf dem Roten Platz niedergeknüppelt zu werden. Schließlich hat er sich nach Finnland abgesetzt, weswegen der Generalstaatsanwalt, für den du arbeitest, ihn eines Staatsverbrechens für schuldig befunden und zum Tode verurteilt hat. Lustig, was? Ein Chefinspektor aus Moskau kann plötzlich einfach so herkommen, aber wenn Stas je nach Moskau zurückkehrt, wird er umgehend einkassiert. Das gleiche gilt sicher auch für mich.«
    »Selbst ich fühle mich hier sicherer«, gab Arkadi zu.
    »Was ist das für ein Fall, den Sie bearbeiten? Hinter wem sind Sie her?« fragte Stas.
    »Das kann ich Ihnen nicht sagen«, sagte Arkadi.
    »Stas fürchtet, daß ich dein Fall bin«, sagte Irina. »In der letzten Zeit haben wir viele Besucher hier in München gehabt. Familienmitglieder, Freunde von dort, wo wir hergekommen sind.«
    »Hergekommen?« fragte Arkadi.
    »Uns abgesetzt haben«, sagte Irina. »Liebe alte Großmütter und frühere Vertraute, die uns dauernd erzählen, daß zu Hause alles in Ordnung ist und wir wieder zurückkehren können.«
    »Nichts ist in Ordnung«, sagte Arkadi. »Geht nicht zurück.«
    »Möglicherweise haben wir bei Radio Liberty eine bessere Vorstellung von dem, was in Rußland passiert, als Sie«, sagte Stas.
    »Das hoffe ich«, sagte Arkadi. »Die Leute, die vor einem brennenden Haus stehen, haben im allgemeinen eine bessere Übersicht als die Leute drinnen.«
    Irina sagte: »Laß es gut sein. Ich habe Stas bereits gesagt, daß es kaum eine Rolle spielt, was du sagst.«
    Das Seufzen einer Tuba leitete einen Walzer ein. Musiker in Lederhosen hatten auf der Empore des Pavillons Platz genommen. Im übrigen nahm Arkadi außer Irina kaum etwas wahr. Die Frauen an den anderen Tischen waren niedlich, schlank, brünett, weißblond, in Hosen oder Röcken - und alle von der gleichen deutschen Situiertheit und Sicherheit. Mit ihren weit auseinanderstehenden slawischen Augen und ihrer ruhigen Selbstbeherrschung war Irina einzigartig, eine Ikone an einem Biertisch. Eine vertraute Ikone. Arkadi hätte im Dunkeln die Linie von ihren Brauen über die Wölbung ihrer Wangen bis zu den Winkeln ihres vollen, weichen Mundes nachzeichnen können - doch sie hatte sich verändert, und Stas hatte dieser Veränderung einen Namen gegeben. In

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