Das Labyrinth
verlassen. Sie bauen uns Wohnungen in Rußland, nur damit wir verschwinden. Ein weiterer Grund, hier einzukaufen, solange Sie Gelegenheit dazu haben.« Er schloß den Kühlschrank. »Renko, Sie können jede Minute zurückgeschickt werden. Sie sollten das hier wie einen Urlaub betrachten.«
»Ein Aussätziger auf Ferien?«
»So ungefähr.« Federow klopfte sich eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an. Arkadi hatte zwar nicht das Bedürfnis, so früh am Morgen schon zu rauchen, aber eines konnte er von seinen Landsleuten in Moskau sagen, selbst von Polizeibeamten bei einem Verhör: Sie teilten, was sie besaßen.
»Es muß doch langweilig für Sie sein zu überprüfen, was ich zum Frühstück zu mir nehme.«
»Heute morgen muß ich einen belorussischen Frauenchor zum Flughafen bringen, eine Delegation staatlich ausgezeichneter Künstler aus der Ukraine begrüßen und unterbringen, an einem Mittagessen mit Vertretern des Mosfilm und der Bavaria teilnehmen und dann einen Empfang für die Minsker Volkstanzgruppe ausrichten.«
»Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Ihnen Umstände mache.« Er streckte seine Hand aus. »Nennen Sie mich Arkadi.«
»Gennadi.« Federow ergriff unwillig die dargebotene Hand. »Solange Sie nur begreifen, was für Scherereien wir mit Ihnen haben.«
»Wollen Sie, daß ich mich bei Ihnen melde? Ich könnte Sie später anrufen.«
»Nein. Verhalten Sie sich nur ganz normal. Machen Sie Einkäufe. Bringen Sie Ihren Freunden ein Souvenir mit. Und seien Sie um fünf wieder hier.«
»Um fünf.«
Federow ging zur Tür. »Genehmigen Sie sich ein Bier im Hofbräuhaus. Genehmigen Sie sich zwei.«
Arkadi trank an einem Imbißstand im Bahnhof eine Tasse Kaffee. Federow hatte recht: Er wußte nicht, wie er außerhalb Rußlands eine Ermittlung durchführen sollte. Er hatte keinen Jaak, keine Polina. Ohne offiziellen Vollmachten konnte er keine Polizisten anfordern. Mit jeder Minute kam er sich verlorener in diesem fremden Land vor. In der Verkaufstheke vor ihm lagen Äpfel, Orangen, Bananen, Wurstscheiben und kalter Schweinebraten, aber er ertappte sich dabei, daß seine Hand heimlich nach einem Zuckerpäckchen griff. Er hielt inne. Die Hand eines Sowjetkrüppels, dachte er.
Am Ende der Theke stand ein Mann, der ihm fast bis aufs Haar glich - das gleiche blasse Gesicht, das gleiche zerknitterte Jackett -, aber mit einer Ausnahme: Er stahl sowohl den Zucker als auch eine Orange. Der Dieb warf ihm einen verschwörerischen Blick zu. Arkadi sah sich um. An beiden Enden der Bahnhofshalle standen je zwei grau Uniformierte mit Maschinenpistolen. Angehörige einer Anti-Terror-Einheit, wie er erkannte. Auch München hatte seine Probleme.
Er schloß sich einer Gruppe Türken an, die zur U-Bahnstation hinuntergingen. Auf den Stufen jedoch kehrte er um und mischte sich unter die Menschen, die dem Ausgang zustrebten. Draußen blieb er am Rinnstein stehen und wartete mit all den gesetzestreuen Münchnern darauf, daß die Ampel Grün zeigte. Doch plötzlich löste er sich aus der Gruppe, sprang durch eine Verkehrslücke auf die Insel in der Mitte der Straße und lief dann, abermals allein, auf die Leute zu, die an der anderen Straßenseite warteten und ihn anstarrten.
Arkadi schlenderte durch eine Einkaufspassage und gelangte schließlich wieder in die Fußgängerzone, die er vom Tag zuvor bereits kannte. Er ging weiter und sah sich erfolglos nach einer Telefonzelle um, bis er auf einem Parkplatz in einer Nebenstraße ein gelbes Häuschen mit einer Bank und einem Telefonbuch fand. Eine winzige Frau mit einem Mantel, der ihr bis auf die Füße fiel, stand neben dem Häuschen und blickte tadelnd auf ihre Uhr, ganz so, als hätte Arkadi sich verspätet. Das Telefon läutete, und sie eilte an ihm vorbei, um den Hörer abzunehmen.
Ein Schild an der Tür wies darauf hin, daß es sich um ein öffentliches Telefon handelte, an dem man angerufen werden konnte. Die Unterhaltung der Frau war explosiv, aber kurz und endete damit, daß sie energisch den Hörer auf die Gabel knallte. Sie schob die Tür auf, verkündete: »Es ist frei«, und verschwand.
Arkadi setzte seine Hoffnung auf dieses Telefon. In Moskau gab es praktisch keine Telefonbücher, und die öffentlichen Fernsprechzellen waren schmutzig, ausgebrannt oder außer Betrieb. Wenn ein Telefon läutete, achtete gewöhnlich niemand darauf. In München waren die Telefonzellen gepflegt wie Badezimmer - besser als Badezimmer. Und wenn es läutete, nahmen
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