Das Labyrinth
gerichtet.
»Nein.« Er schloß die Haustür hinter sich, überrascht, so weit vorgedrungen zu sein.
Arkadi wußte nicht viel über die gesellschaftlichen Gepflogenheiten des Westens, aber es erschien ihm seltsam, daß eine Putzfrau einem Fremden Auskunft darüber gab, wie lange ihr Arbeitgeber wegbleiben würde. Und daß sie so geduldig auf das primitive Deutsch des Anrufers reagiert hatte. Warum machte sie die Wohnung sauber, wenn Benz fort war? Er dachte über den Brief nach. In Moskau standen Bankkunden an den Schaltern an, um Einzahlungen zu tätigen oder sich Geld auszahlen zu lassen. Im Westen wurden Kontoauszüge mit der Post verschickt - aber wurden die Umschläge auch mit handschriftlichen Angaben versehen?
Er ging ein paar hundert Meter weiter die Königinstraße hinunter, überquerte sie und schlenderte auf einem von Ahornbäumen und Eichen überhangenen Weg parallel zur Straße wieder zurück, um sich schließlich auf eine Bank zu setzen, von der aus er Benz’ Haus sehen konnte. Es war offensichtlich die Stunde, zu der die Münchener ihre Hunde ausführten. Sie bevorzugten kleine - Möpse und Dackel, nicht viel größer als ihre Maßkrüge. Den Hundebesitzern folgte eine Parade älterer, elegant gekleideter Ehepaare, von denen einige zueinander passende Spazierstöcke trugen. Arkadi hätte sich nicht gewundert, hinter ihnen Kutschen die Königinstraße hinabrollen zu sehen.
Leute betraten und verließen das Haus, fuhren in langen, dunklen Limousinen - wahrscheinlich die Ärzte - davon. Schließlich tauchte die Schwester mit dem säuerlichen Gesicht auf, warf der Straße einen strengen Blick zu, um sie zu gutem Benehmen zu ermahnen, und entfernte sich in entgegengesetzter Richtung.
Etwas später wurde Arkadi bewußt, daß die Straßenlampen heller und der Weg dunkler geworden war. Es war elf Uhr abends. Mit Sicherheit wußte er jetzt nur, daß Benz nicht zurückgekehrt war.
Es war ein Uhr nachts, als er schließlich in seine Pension zurückkehrte. Er konnte nicht sagen, ob das Zimmer während seiner Abwesenheit durchsucht worden war, es sah so unbewohnt aus wie vorher. Er erinnerte sich, daß er etwas zu essen hätte kaufen sollen. Es gab so vieles, was er vergaß. Hier, von Luxus umgeben, schien er es darauf abgesehen zu haben zu hungern.
Er setzte sich mit seiner letzten Zigarette auf die Fensterbank. Der Bahnhof war ruhig. Rote und grüne Lichter schimmerten über den Schienen, kein Zug, der ankam oder abfuhr. Auch der Busbahnhof, der sich längs der Gebäude erstreckte, war wie tot. Leere Busse standen am Straßenrand. Gelegentlich blendete der Scheinwerfer eines Wagens auf und entfernte sich … wohin?
Was ist es, was wir am meisten ersehnen im Leben? Das Gefühl, daß jemand irgendwo an uns denkt und uns liebt.
Noch besser, wenn auch wir ihn lieben. Alles läßt sich ertragen, wenn nur dieses Gefühl Bestand hat.
Was könnte schlimmer sein, als zu entdecken, wie eitel und nichtig die Sehnsüchte sind, denen man nachhängt.
Es war besser, nicht darüber nachzudenken.
Am Morgen wurde Arkadi von Federow besucht, der ins Zimmer huschte wie eine inspizierende Hauswirtin.
»Der Vizekonsul hat mich gestern nachmittag gebeten, nach Ihnen zu sehen, aber Sie waren nicht da. Gestern abend auch nicht. Wo waren Sie?«
»In der Stadt«, sagte Arkadi. »Sehenswürdigkeiten anschauen.«
»Da Sie niemand bei der Münchener Polizei kennen, keine Vollmachten und keine Ahnung haben, wie hier Ermittlungen durchgeführt werden, befürchtet Platonow, daß Sie Schwierigkeiten bekommen und auch uns welche machen.« Er warf einen Blick auf das Bett. »Keine Laken?«
»Habe ich vergessen.«
»Ich würde mich hier auch gar nicht erst häuslich einrichten, wenn ich Sie wäre. Sie werden sowieso nicht lange hier sein.« Federow zog ein paar Schubladen auf. »Immer noch kein Koffer? Wollen Sie alles, was Sie einkaufen, in Ihren Manteltaschen mit nach Hause nehmen?«
»Ich bin noch nicht zum Einkaufen gekommen.« Federow öffnete den Kühlschrank. »Leer. Wissen Sie, daß Sie ein typischer Sowjetkrüppel sind? Sie sind so wenig daran gewöhnt, frei einkaufen zu können, daß Sie es selbst dann nicht tun, wenn alles im Überfluß vorhanden ist. Genießen Sie es doch. Das hier ist ein Schokoladenland.« Er warf Arkadi ein schiefes Lächeln zu. »Angst, für einen Russen gehalten zu werden? Stimmt, sie verachten uns so sehr, daß sie tatsächlich Millionen von Mark an Umzugskosten zahlen, damit wir die DDR
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