Das Lachen der Hyänen: Thriller (German Edition)
schlägt, geht man nicht unter. Damals weiß sie, wenn man schwimmt, kommt man voran.
Von da an ist sie lieber im Wasser als mit beiden Beinen auf dem Boden. Wenn andere Kinder im Sandkasten spielen, auf dem Spielplatz herumturnen oder mit dem Fußball auf Garagentore kicken, schwimmt sie. Immer wenn es geht, schwimmt sie. Im Schwimmbad, im See, im Fluss. Überall.
Am liebsten aber taucht sie. Vier Bahnen im Schwimmbad kann sie tauchen, ohne Luft zu holen. Die anderen Kinder stehen am Beckenrand und klatschen. Auch die Mädchen. Sie ist wer. Sie ist die, die am längsten tauchen kann, die am längsten die Luft anhalten kann. Sie ist wer! Sie schwimmt und schwimmt und taucht und taucht und schwimmt und glaubt dabei manchmal sogar ein Fisch zu sein. »Unsere Forelle!«, sagt ihre Mutter. Hajo lacht und bewegt dabei den Mund wie ein fetter Karpfen. Sie zeigt ihm einen Vogel und bekommt eine Ohrfeige von der Mutter. Vogel gegen Karpfen. Der Kampf wird mit unfairen Mitteln entschieden. Am Ende ist sie dennoch die Siegerin. Hajo hält zu ihr, und die Mutter verlässt wütend die Wohnung. Hinter ihrem Rücken zeigt sie ihr ebenfalls einen Vogel, und Hajo lacht.
Als ihre Mutter zurückkommt, ist sie betrunken und singt. Es klingt falsch, unheimlich. Sie versteckt sich unter der Bettdecke und denkt an das Wasser, an Fische, an Hajo, an Doreen.
Sie stehen auf der großen Brücke und gucken über das Geländer nach unten. Sie spucken und zählen, bis die Spucke unten auf dem Wasser aufkommt.
»Sechs«, sagt Doreen. »Meine ist schneller.«
»Quatsch«, entgegnet sie. »Spucke ist Spucke.«
Ein Ruderboot taucht unter der Brücke auf und gleitet fast lautlos dahin. Sie verstummen und schauen dem Boot hinterher, wie es andächtig das Wasser durchschneidet und den Fluss abwärts fährt. Sie bringen kein Wort mehr heraus, bis das Boot hinter der nächsten Flussbiegung verschwindet.
»Das ist es«, sagt Doreen in das lange Schweigen hinein und nickt. Beide wissen, da hinten liegt sie, die Zukunft, ihre Zukunft.
Sie ist zehn, als sie ihr erstes Boot besteigt.
Ihre Mutter ist dagegen. »Rudern ist doch nichts für Mädchen«, sagt sie. »Du kannst Federball spielen, Tanzen, Eiskunstlaufen, Fechten. Aber Rudern?«
»Lass sie doch, wenn sie will«, sagt Hajo, »und melde sie an.«
Von da an ist das Boot ihr neues Zuhause. Backbord, Steuerbord, Gig, Riemen, Schlagzahl ihre Sprache und Doreen ihre Vertraute. Zusammen sind sie ein Team, das Team, und unzertrennlich. Ein Herz und eine Seele. Sie ritzen sich die Unterarme auf, pressen sie aufeinander und mischen das Blut, wie sie es in den Indianerfilmen gesehen haben: Eine für alle, alle für eine, durch dick und dünn, bis ans Ende der Welt. Sie werden Zwillinge, Zwillinge im Zweier ohne Steuermann.
Jetzt schwimmt sie nicht mehr, sondern gleitet auf dem Wasser, im Boot, immer schneller, gradlinig, dem Horizont entgegen.
Rudern ist erhabener als Schwimmen. Auf dem Wasser gleiten ist das höchste der Gefühle. Sie ahnt, im Boot rudernd erreicht man schneller das Ziel.
Jetzt stehen sie nur noch selten auf der Brücke. Meistens fahren sie unten durch und blicken nach oben. Von unten sieht die Brücke noch höher aus.
»Was glaubst du, wie hoch?«, fragt sie.
»Ist doch egal«, sagt Doreen. »Konzentrier dich.«
Wenn sie dahingleiten, wenige Zentimeter über dem Fluss, immer weiter, immer länger, vergessen sie alles. Woher sie kommen, wohin sie wollen, wer sie sind. Sie lösen sich auf, werden Nichts, ein dahingleitendes Nichts. Es zählt nur noch, dass man da ist, dass man übers Wasser gleitet und rudert wie ein Uhrwerk, wie in Trance, den Blick zum Horizont, die Gedanken im Himmel, weit weg, davonziehend mit den Wolken.
Sie war schon lange nicht mehr auf dem Wasser. Sie war schon lange nicht mehr auf der Brücke und hat schon lange nicht mehr hinuntergespuckt und gezählt. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – platsch! Sie hat schon lange nicht mehr gelebt. Richtig gelebt.
Sie ist müde. Sie möchte schlafen, lange schlafen und dann aufwachen. Und dann ist alles vorbei. Alles Alte ist vergangen, alles Neue beginnt. Ohne das, was davor war, ohne Erinnerung. Ohne alles. Auch ohne die Gedanken an ihn.
Sie kann sich nicht mehr bewegen, ist schwer und leicht zugleich. Leer. Als wäre sie ausgehöhlt, nur noch Hülle, Haut, wie die abgelegte Haut einer Schlange, verdörrt in der Sonne. Es ist vollkommen öde in ihr. Sie fühlt nichts mehr. Nicht Schmerz, nicht Trauer,
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