Das Lachen und der Tod (German Edition)
gleichzeitig. Es stank furchtbar. Ein Gefangener blieb zu lang sitzen. Mit seinen groben Händen packte ein Kapo den Mann am Schlafittchen und schleuderte ihn gegen einen Holzpfosten. Ohne zu zögern, nahm ich den freien Platz ein. Dünnschiss, kein Klopapier.
Keine zehn Minuten nach dem Aufwachen stellte ich mich fürs Frühstück an. Das Brot war trocken und hart, der »Kaffee« dünn und trüb. Ich aß und trank genauso hastig wie die anderen – das Herdenverhalten erschien mir am sichersten. Die Leiche meines Vorgängers, die neben der Tür gelegen hatte, war abgeholt worden. Als wir draußen standen, fiel mir auf, dass sich viele Häftlinge mit besonderer Sorgfalt ihrem Schuhwerk widmeten. Mein Nachbar, ein strammer Franzose, umwickelte seine geschwollenen Füße mit schmutzigen Lappen und Papier. Er befestigte sie mit Eisendraht, den er um sein Handgelenk gewickelt hatte, und schlüpfte mit schmerzverzerrtem Gesicht in seine Holzpantinen.
Morgenappell. Zurück ins Glied. Achtung! Augen rechts. Mützen auf. Rührt euch – Ruhe. Schlomo lief durch die Reihen und zählte. Zählen, immer nur zählen, wo doch ein Menschenleben nichts zählte! Der Blockälteste nickte einem Mann zu, der der Rapportführer sein musste: Die Anzahl stimmte.
Von einem großen Stapel durften wir uns eine Jacke nehmen. Ich entdeckte eine etwas zu weite graue Winterjacke, die ich schnell über meine gestreifte Kluft zog. Danach marschierten wir in Fünferrotten zum steinernen Kasernengebäude auf dem Lagergelände. Ich hörte Musik. Marschmusik. Alte Kameraden. Am schmiedeeisernen Tor sah ich ein Orchester mit zehn, zwölf Musikern. Sie spielten Querflöte, Geige, Trompete, Pauken und Posaune. Falsche, müde, gezwungen fröhliche Melodien.
Wir verließen das Lagergelände. Über der flachen weißen Landschaft lagen Nebelschleier. Ich sah meinen Atem, und unter meinen Füßen knirschte der Schnee, das Geräusch war weithin zu hören. Jetzt verstand ich, warum so viele Gefan gene auf ihr Schuhwerk achteten. Mit meinen nackten Füßen in den Holzpantinen war ich so gut wie gar nicht gegen die Kälte geschützt. Ich spürte, wie der Holzrand an meinem Fußrücken scheuerte. Bei jedem Schritt blieb Schnee unter meinen Sohlen kleben, der dicke Klumpen bildete. Ich musste aufpassen, dass ich keine Pantine verlor und mir nicht die Knöchel stieß. Wenn das festgebackene Eis abfiel, hatte ich das Gefühl, ein Bein sei plötzlich kürzer.
Nach einem mindestens dreiviertelstündigen Marsch erreichten wir eine große Baustelle, auf der andere Gefangene bereits Steine schleppten und Mauern hochzogen. Weiter hinten auf einem Nebengleis standen ein paar Güterwaggons. Wieder mussten wir strammstehen und wurden einem anderen Kapo übergeben. Der baute sich breitbeinig vor uns auf. »Ich heiße Heinz«, rief er. »Ab sofort untersteht ihr mei nem Kommando!« Er hob seinen Knüppel. »Das ist mein Dolmetscher. Diese Sprache versteht jeder. Denn dieser Knüppel spricht alle Sprachen!«
Kapo Heinz fand sichtlich Gefallen an seinem Witz, den er zweifellos schon viele Male erzählt hatte. Er war erschreckend hässlich: spitze Ohrläppchen, eine graue Igelfrisur, tief liegende Augen. Insgeheim nannte ich ihn Schweinz.
»Das ist ein Baukommando!«, fuhr er fort. »Eure Aufgabe besteht darin, die Zementsäcke vom Waggon zur Baustelle zu bringen. Und zwar schnell, verstanden?«
Schweinz zeigte auf fünf Männer, unter anderem auf den Franzosen, der neben mir geschlafen hatte. In einem braunen Waggon durften sie Zementsäcke zur Tür schleifen. Sie hatten Massel. Ich und dreißig andere mussten den Zement tragen, grauweiße Papiersäcke mit dem violetten Aufdruck PortlandZement, 5 0 kg. Ich geriet ins Wanken, sobald ich das Gewicht des ersten Sacks auf meinen Schultern spürte. Aber noch war ich ausgeruht. Angefeuert vom fluchenden Kapo lief ich die hundert Meter in wenigen Minuten. Ich warf den Sack auf einen Stapel bei der weiter hinten gelegenen Baustelle, wo einzelne Gefangene Zement mischten. Die Eimer mit Mörtel gossen sie über rostige Drahtmatten.
Ein älterer Häftling stolperte mit seiner Last über einen Stein. Er stieß einen Schmerzensschrei aus, wahrscheinlich hatte er sich den Fuß verstaucht. Der Kapo schien nur auf einen solchen Fehltritt gewartet zu haben: Wie ein Besessener begann er, auf ihn einzuprügeln. Der Gestürzte versuchte, den Knüppel mit bloßen Händen abzuwehren. Es ist ein Naturgesetz, dass Tiere aufhören, sobald sich
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