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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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Tag für Tag in Lebensgefahr, wenngleich nicht durch Giftgas. Tag für Tag konnte das Schicksal erbarmungslos zuschlagen: Warum traf es den anderen, während man selbst verschont blieb? Ich schlief in einer zugigen Holzbaracke, er in einem nassen, modrigen Laufgraben. Ich musste mich erniedrigen lassen, um zu überleben, er hingegen hatte töten müssen.
    Ein einziges Mal hatte er mir von seiner Zeit an der Front erzählt, in seinem Arbeitszimmer lange nach seiner Rückkehr. Es sollte auch das letzte Mal bleiben. Damit er überhaupt dazu in der Lage war, hatte er sich mit Schnaps betäubt.
    »Ich wollte eigentlich gar nicht aktiv kämpfen«, sagte er. »Es war mir gelungen, einen Posten als Kriegsberichterstatter zu ergattern. Ich wollte über alles berichten, aber das mit dem Hinter-den-Seitenlinien-Bleiben konnte ich bald vergessen. Bei der Schlacht an der Somme befand ich mich an der vordersten Front, unser Maschinengewehrschütze war durch einen Granatsplitter ums Leben gekommen. Ich nahm seinen Platz ein und schoss im Nebel auf alles, was sich bewegte, in kurzen Salven, denn sonst wäre der Gewehrlauf geschmolzen. Die Engländer fielen zu Hunderttausenden. Ein Mann schrie nach seiner Mutter. Da tauchte ganz in der Nähe meiner Stellung wie aus dem Nichts ein Tommy auf. Ich riss mein Maschinengewehr herum und schoss ihm von unten ins Gesicht. Zwei, drei Sekunden lang. Zig Kugeln trafen seine Wangen, seine Nase, seine Zähne und seine Augen. Von seinem Kopf blieb nur noch ein blutiger Klumpen Fleisch übrig.«
    Mein Vater erzählte gefasst weiter. »Im Laufgraben hatte ich ein Gewehr bereitstehen. Mit Bajonett. Wir nannten es das Schlachtermesser. Nach den ersten Angriffswellen stand ich plötzlich Auge in Auge einem englischen Soldaten gegenüber, der sein Regiment verloren haben musste. Er war noch ein Kind, keine sechzehn Jahre alt. Der Junge erstarrte. Please, sagte er. Please, Sir. Ich zögerte kurz, stieß dann trotzdem zu. Keine Ahnung, was da in mich gefahren ist.«
    Warum hatte mein Vater beschlossen, in den Krieg zu ziehen? Aus Pflichtgefühl? Aus Liebe zum Kaiserreich? Wohl kaum. Wollte er sich vor seiner Familie rechtfertigen? Er hatte es gerade erst geschafft, sich aus dieser bedrückenden Umklammerung zu befreien. Nach der Heirat mit meiner Mutter, einer holländischen Schauspielerin, die noch dazu Jüdin war, hatten seine Eltern jeden Kontakt zu ihm abgebrochen. Suchte er das Abenteuer? Oder wollte er sich als Mann beweisen und nicht länger im Schatten eines gefeierten Stars stehen?
    Er betete meine Mutter an. Sie hatten sich im Theater Diligentia auf der Langen Voorhout in Den Haag kennengelernt, bei der Premiere eines Stücks, in dem sie die Hauptrolle spielte. Bei dieser Gelegenheit schüttete sie ihm Rotwein übers Hemd. Dass das mit Absicht geschah, bestritt sie stets, aber niemand glaubte ihr.
    Anderthalb Jahre später kam ich zur Welt. Ich war ein Unfall, das darf als sicher gelten: Nie wäre ihr eingefallen, jemanden in die Welt zu setzen, der wichtiger sein könnte als sie. Auch nach meiner Geburt lebte sie vor allem für die Bühne, wo sie hingebungsvoll nicht existierende Menschen mit nicht existierenden Problemen darstellte. »Nur auf der Bühne bin ich ganz bei mir«, sagte sie einmal pathetisch. Leider war ich damals noch zu klein, um sie zu fragen, wie man ganz bei sich sein kann, indem man anderen etwas vormacht.
    Wenn meine Mutter zu Hause war, musste sie meist schnell wieder weg. Ihr blumiges Parfum jedoch hing immer noch eine Weile in der Luft. Als kleiner Junge sah ich einmal ein Plakat von ihr, das an der Fassade der Stadsschouwburg hing. Mimi Rosenberg. Sie hatte ihren Mädchennamen beibehalten. Ich blieb lange davor stehen. Endlich hatte ich Zeit, sie mir mal richtig anzusehen.
    Einmal war ich tatsächlich mit meiner Mutter allein. Im Zoo. Diesen Ausflug hatte sie mir irgendwann nach langem Billen und Quengeln versprochen und bestimmt gehofft, ich würde ihr Angebot schnell wieder vergessen. Aber den Gefallen tat ich ihr nicht. Dazu freute ich mich viel zu sehr vor allem auf die Haie, die Panther und die Löwen. In der Schule hatte ich eine Giraffe gezeichnet, nach einem Bilderbuch. Am vereinbarten Mittwoch kam sie viel zu spät nach Hause, wegen zusätz licher Proben. Mea culpa, mea culpa, rief sie mit dramatischer Stimme, mea maxima culpa. Anderthalb Stunden, bevor er geschlossen wurde, standen wir endlich vor dem Amsterdamer Zoo.
    Sie kaufte mir einen Lutscher und ein Foto

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