Das Lachen und der Tod (German Edition)
verging, an dem ich ihn nicht vermisste. Manchmal setzte ich mich an seinen Schreibtisch, aber das machte die Sehnsucht nur noch schlimmer. Ich fand Trost bei Geertje und Hendrik, die mich behandelten wie einen Sohn. In der Schule wirkte ich bei einem Theaterstück über die Vor- und Frühgeschichte mit und spielte einen Höhlenmenschen. Für diese Rolle hatte unsere Haushälterin extra Hühnerknochen ausgekocht und mir eine Kette daraus gebastelt. Bei der Aufführung saß Geertje in der ersten Reihe. Meine Mutter war auch da … nach der Pause.
Mein Vater kehrte heim, mehr aber auch nicht. Er schloss sich häufig in seinem Arbeitszimmer ein. Ich horchte an der Tür. Ab und zu hörte ich zögerlich die Schreibmaschine klappern. Einmal hatte Geertje beim Saubermachen ein zusammengeknülltes Blatt Papier aus dem Papierkorb gefischt. Es sei der Anfang eines Gedichts, sagte sie. Über einen Laufgraben, der aussehe wie ein lang gestrecktes, offenes Grab. Sie erlaubte nicht, dass ich es las.
Mein Vater vereinsamte. Genau wie meine Mutter. Erst gab es Streit, bei dem vor allem sie laut wurde. Danach ignorierte sie ihn, was alles nur noch schlimmer machte. Sie blieb eine Nacht weg. Zwei Nächte. Drei Nächte. Mein Vater unternahm nichts dagegen. Zu Beginn des Frühjahrs 1919 standen eines Tages zwei Polizisten vor der Tür. Ich war gerade im Flur, als mein Vater aufmachte. Ob er Meneer Hoffmann sei und sie kurz hereinkommen dürften. Meine Mutter war in einem Hotelzimmer aufgefunden worden, jemand hatte sie mit einem Seidenschal erdrosselt. Man ging von einem Verbrechen aus Leidenschaft aus.
Ich habe meine Mutter nie mehr gesehen. Das Begräbnis war nüchtern, ganz ohne Blumen. Es kamen verschiedene Leute aus der Welt des Theaters. Ein letztes Mal zog sie alle Aufmerksamkeit auf sich. Mein Vater stand vor ihrem Sarg und schwieg. Er stand einfach nur da.
Wir saßen sieben Tage lang Schiwa: Die Familie saß auf dem Boden oder auf niedrigen Hockern beieinander. Die Männer rasierten sich nicht, die Frauen machten sich nicht zurecht. Meine Oma, die Mutter meiner Mutter, wollte unbedingt an den althergebrachten jüdischen Trauerriten festhalten, und mein Vater war einverstanden. Meine Mutter war Jüdin gewesen, aber keine gläubige. An der Wand hing ein handgeschnitzter Davidsstern, und auf der Ankleidekommode stand der Chanukka-Kerzenleuchter.
Eines Tages sagte mein Vater: »Ich weiß gar nicht mehr, wie man lacht.« Mit Humor wollte ich ihn wieder ins Leben zurückholen. Ich nahm gegenüber von ihm Platz, stützte das Kinn in die Hand und sah mindestens so traurig und trübsinnig drein wie er.
»Pap, woran erkennt man einen Deutschen mit Humor?«
»Woran mein Junge?«
»Tja, wenn ich das wüsste!«
Jeden Tag ein Lacher wurde für mich zu einer regelrechten Obsession. Kein einziges Mal klappte es. Ich spielte den Clown, vor einem einzigen Zuschauer. Zirkus Ernst. Nie erfuhr ich, ob ich meine Mission erfüllt hatte. Später dachte ich manchmal: Wäre ich doch nur ein besserer Clown gewesen! Am Morgen nach meinem einundzwanzigsten Geburtstag, am 23. November 1928, schoss sich mein Vater eine Kugel in den Kopf.
9
Es klingelte. Ein Stock glitt mit lautem Geratter über die Holzpfosten der Schlafkojen. Draußen war es noch dunkel, drinnen brannte Licht. Aufstehen! Wstawac, wstawac! Die Häftlinge sprangen aus dem Bett, schüttelten fieberhaft ihre Decken aus, falteten sie zusammen und zupften den Strohsack zurecht. Einige husteten und räusperten sich wegen des Staubs. Ich war noch zu schlaftrunken für so viel militärische Disziplin. Mein Körper war kalt und steif. Ich erhob mich mühsam und tat in etwa, was die anderen taten.
In der Tür stand ein SS -Mann und musterte die Szene mit unergründlichem Ernst. Schlomo lief schreiend an den Pritschen vorüber. Tempo! Tempo! Gefangene, die er für zu langsam hielt, verprügelte er mit seinem Bambusstock. Er hatte einen sympathischen Eindruck gemacht, doch plötzlich widerte er mich an.
Stolpernd folgte ich den anderen zur nächsten Baracke, wo wir uns waschen konnten. Ich stand mit Hunderten in einer Reihe, brauchte aber nicht lange zu warten. Vor dem Waschbecken schaffte ich es gerade noch, mir etwas eiskaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen, als ich auch schon weitermusste. In der Toilette gab es keine Porzellanschüsseln wie in den Gebäuden aus Stein, sondern nur Betonbänke in drei langen Reihen, die runde Löcher aufwiesen. Zig Gefangene pissten und kackten
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