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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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Querbalken:
    Sei ehrlich
    Eine Laus – dein Tod
    Halte Ordnung
    War das Ironie, Sarkasmus oder Zynismus? Oder waren diese Anweisungen blutiger Ernst und so typisch deutsch, dass sie schon wieder komisch waren? Ich wollte nicht darüber nachdenken. In meiner wässrigen Suppe schwammen zwei Stückchen Fleisch von äußerst fraglicher Herkunft. Fleisch von streunenden Hunden? Ich hatte gehört, dass man die Tiere in regelmäßigen Abständen erschoss. Ich hatte gleich zwei Stück bekommen – so viel Massel muss man erst mal haben! Das entging auch meinem französischen Nachbarn nicht, der neben mir auf der Pritsche saß.
    »Tauschen?«, fragte er. »Fleisch gegen une cigarette? Zigarette?«
    »Ich rauche nicht«, sagte ich kurz angebunden.
    Er war enttäuscht. Ohne groß nachzudenken, fischte ich ein Stück Fleisch aus meinem Napf und ließ es in seinen fallen. Er sah mich überrascht an.
    »Aber … was willst du dann?«
    »Deinen Namen.«
    »Armand«, murmelte er.
    »Ernst.«
    Verblüfft ergriff er meine ausgestreckte Hand. Er sah mich an, als sei ich nicht von dieser Welt, und löffelte schnell weiter.
    Mir war aufgefallen, dass es im Großen und Ganzen zwei Arten von Gefangenen gab: diejenigen, die ein Stückchen Brot oder Wurst in ihrem Strohsack aufbewahrten und immer wie der nur ein bisschen daran knabberten, und diejenigen, die al les Essbare gleich auf einmal verschlangen. Langsame Esser riskierten, bestohlen zu werden. Vermutlich dachte Armand, der Magen sei der beste Safe.
    Ich verstand das bloß mit dem Tauschen nicht. Wie schaffte er es, an Tabak zu kommen? Woher kam das Zeug?
    In einfachem Französisch und noch einfacherem Deutsch erzählte Armand vom »Warenhaus« im Lager, vom grand magasin, in dem sämtliche Besitztümer der hier angekommenen und vergasten Juden aufbewahrt wurden. Dort gab es Berge von Kleidern, Schuhen, Brillen, Konserven, Zigaretten, Geld, Schmuck und allem, was man sonst so dabeihatte, wenn man für längere Zeit verreiste. Kostbare Dinge wie Geld und Schmuck verschwanden zum Teil in den Taschen der SS -Offiziere, der Rest wurde ins Reich transportiert.
    Offiziell hieß dieses Paradies Effektenlager, aber die Häftlinge nannten es Kanada, wegen seines sagenhaften Reichtums. Gefangene des Kanada-Kommandos hätten sehr viel Glück, so Armand. In den Koffern fänden sie stets etwas Essbares. Es sei zwar bei Todesstrafe verboten, etwas mitgehen zu lassen, aber erfinderisch wie sie seien, gelänge es den Häftlingen, Kleidung, Nahrung, Zigaretten und Medikamente ins Lager zu schmuggeln. Das heiße übrigens nicht schmuggeln oder stehlen, sondern organisieren.
    Ich überlegte, den Diamanten gegen wollene Unterwäsche zu tauschen. Mit den richtigen Kontakten müsste das klappen. Aber ohne ein solch kostbares Tauschmittel konnte ich nichts mehr für Max, den Diamantenhändler, tun, auch wenn ich ohnehin nicht die leiseste Ahnung hatte, wie ich seine Kinder retten sollte. Ich stand tief in seiner Schuld. Diesen Gedanken wurde ich einfach nicht mehr los. Wenn ich nicht gewesen wäre, würde er noch leben.
    Ich drehte mich vorsichtig auf die Seite und zog die Beine bis ans Kinn. Sofort spürte ich die Stiche. Läuse. Beißende Läuse. Ich stand wieder auf und untersuchte meine Kleider. Wieder zerquetschte ich zwanzig, dreißig Parasiten. Meine Handflächen waren schwarz, genau wie die der anderen. Eine Assel, die im falschen Moment am falschen Ort aus meinem Strohsack kroch, machte ich ebenfalls platt. Ich dachte an Helena. Jedes Mal, wenn ich versuchte, die Realität zu verdrängen, jedes Mal, wenn ich ihr entfliehen wollte, erschien sie vor meinem inneren Auge. Ich hatte Angst davor, eines Tages ihr Gesicht zu vergessen. Den Geschmack ihrer Lippen. Oder ihr Lächeln.
    10
    Wenn ich besonders niedergeschlagen war, glaubte ich, so zu enden wie die Muselmänner, wie man hier die ausgezehrten Gestalten kurz vor dem Tod nannte. Eigentlich waren das gar keine Menschen mehr, sondern nur noch Schatten mit leeren Augen, entfleischte Körper mit hervorstehenden Knochen. Bei einigen funktionierte der Schließmuskel nicht mehr, sodass ihnen der Enddarm ein paar Zentimeter aus dem Anus hing.
    Mein Stockbettnachbar von ganz oben war ein solcher Muselmann. Er sagte nie etwas, und niemand wusste, wie er hieß. Wenn er konnte, holte er sich einen runter. Das taten wir alle hin und wieder mal, aber nicht so oft und mit einer sol chen Besessenheit. Er rauchte auch gern. Ich hatte gesehen, wie er sein Stück

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