Das Lachen und der Tod (German Edition)
der anderen Seite des Saals lag unter dem Fenster Kapo Heinz – Schweinz, der Schlächter des Baukommandos. Er war dünner geworden, doch die Ähnlichkeit mit einem Schwein war nach wie vor unverkennbar. Mir wurde noch unbehaglicher zumute. Ob er mich wohl erkannte? Wahrscheinlich nicht. Er rechnete hier bestimmt nicht mit Juden.
Doktor Levi kam herein. Er machte seinen Rundgang. Bestimmt zwanzig Patienten lagen hier. Durch seine Brille warf er einen flüchtigen Blick auf die Patientenakte, stellte eine Frage und notierte etwas. Er war freundlich und distanziert zugleich. Wahrscheinlich eine Berufskrankheit. Ärzte erheben sich gern über ihre Patienten. Man kommt sich schnell überlegen vor, wenn man in der Lage ist, den Tod hinauszuschieben, und sei es auch nur für kurze Zeit.
»Meneer Hoffmann, wie geht es Ihnen?«
»Gut. Sehr gut. Ich bin jetzt ein Patient dritter Klasse.«
Er grinste, untersuchte meine Zunge und fühlte meinen Puls.
»Doktor, sehen Sie den Mann mit dem Schweinsgesicht unter dem Fenster? Was hat er?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Reine Neugier.«
»Ich darf Ihnen über seinen Zustand keine …«
»Ich kenne ihn. Es ist ein Henker.«
Er zögerte, schaute aber trotzdem in seinen Unterlagen nach. »Heinrich Heinz. Kapo. Lungenentzündung.«
»Vielleicht kann ich diesem Patienten ›helfen‹.«
Er sah mich streng an. »Bei so etwas mache ich nicht mit, Meneer Hoffmann. Egal, was Sie vorhaben! Das werden Sie sicherlich verstehen.«
»Das ist ein Vernichtungslager, Doktor.«
»Darf ich Sie daran erinnern, dass ich den hippokratischen Eid geschworen habe?«
»Darf ich Sie daran erinnern, dass dieser Mann mit seinem Knüppel unzähligen Menschen den Schädel eingeschlagen hat? Wenn er sich wieder erholt, macht er einfach damit weiter.«
Ein bedrückendes Schweigen entstand.
»Hören Sie mir gut zu«, sagte Doktor Levi mit unterdrückter Wut. »Sie brauchen mir nichts über dieses Lager zu erzählen. Es gibt hier SS -Leute, die sich Ärzte schimpfen und die Neuankömmlinge selektieren. Im Keller stapeln sich die Leichen. Ich habe gesehen, wie sie Menschen gezwungen haben, in ein Becken mit eiskaltem Wasser zu steigen. Und zusahen, wie lange sie durchhielten. Das sind keine Ärzte, das sind Verbrecher! Was wollen Sie? Dass ich mich auf deren Niveau hinabbegebe?«
»Erzählen Sie das später auch den Angehörigen der Opfer, die er noch auf dem Gewissen haben wird?« Ich wagte mich ganz schön weit vor, doch seine frommen Worte widerstrebten mir.
»Ich kann das erklären.«
»Hoffentlich können sie mit Ihrer Erklärung weiterleben. Hoffentlich können Sie damit leben.«
»Ich bin kein Mörder!«
»Nichts zu tun, ist auch eine Entscheidung, Herr Doktor.«
»Sie wollen ihn tot sehen. Und dann? Wollen Sie sie alle ermorden? Alle diese Menschen hier? Wo fängt es an, und wo hört es auf, Meneer Hoffmann?«
»Das ist eine wichtige Frage, das sehe ich genauso. Aber man kann das Recht auf Leben auch verwirken. Ich weiß nicht, ob ich damit richtigliege, Herr Doktor, nur entspricht das meiner festen Überzeugung. Was Sie tun, müssen Sie selbst wissen.«
Er stand langsam auf und verließ den Saal.
Ich hörte erneut eine Geige. Das konnte kein Zufall mehr sein.
Ich kletterte von der Pritsche und betrat den Flur. Ein kleiner, lachender Mann mit einem schwarzen Schnurrbart lief in einem dunklen Mantel beschwingt durch den Gang und spielte etwas von Beethoven – vermutlich aus seinem Violinkonzert. Ich sah ihm nach, sah ihn davoneilen, sah, wie sich die Türen für ihn öffneten, sah, wie die Menschen ihn anschauten. Er lief zum Krankensaal. Ich hörte ihn aus der Ferne.
Der Pfleger entdeckte mich und erschrak. Er ermahnte mich, in den Saal zu meiner Pritsche zurückzukehren. »Im Gang erkälten Sie sich.«
»Wer ist dieser Mann?«, fragte ich.
»Das ist Jakob, ein Zigeunermusiker. Er darf sich mit seiner Geige frei im Lager bewegen. Meist geben wir ihm ein Stück Brot oder eine Schale mit Suppe. Angeblich soll er seine Familie verloren haben: seine Frau und seine vier Kinder, außerdem andere Verwandte. Er ist ganz allein, hat niemanden mehr, nur noch seine Musik. Jetzt spielt er jeden Tag Geige, immer nur Geige.«
»Auch in der Baracke, in der das Fleckfieber herrscht?«
»Ja. Und er wird nie krank.«
Ich lag wieder auf meiner Pritsche. Hätte ich die verdammte Geige bloß nie gehört! Früher oder später sterben wir hier alle, genau wie Helena. Hoffnung zu spenden ist ein
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