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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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ihr, sich wieder hinzulegen. Sie drehte sich auf die Seite und schob eine Hand unter den Kopf.
    »Du hast wunderbar gesungen in dem Waggon«, sagte ich nach einer Weile. »Kannst du das nicht hier im Lager ebenfalls machen? Zu Orchesterbegleitung?«
    »Nein«, sagte sie angewidert. »So gut bin ich auch wieder nicht. Und dann müsste ich bestimmt auftreten. Vor der SS ! Nein danke.«
    Wieder entstand eine Pause. Im Flur waren Schritte zu hören.
    »Sie haben mich kahl geschoren. Sämtliche Haare sind futsch!« Sie sah mich herausfordernd an. Ich musste aufpassen, jetzt nichts Dummes zu sagen. Vor allem nicht, dass sie immer noch schön sei.
    »Jede Aufseherin ist doppelt so hässlich.«
    »Drei Mal so hässlich!«
    »Aufseherinnen mit Damenbart auf jeden Fall.«
    Sie kicherte und begann wieder zu husten. Vorsichtig legte sie sich auf den Rücken. »Es ist mir schwergefallen, das Leben hier zu ertragen«, sagte sie. »Ich habe viel an Henriette gedacht. An meine Eltern. An meine Schwester. Und ich wusste lange nicht, ob du noch am Leben warst. Dein erster Brief hat mir Mut gemacht.«
    »Ich musste allerdings für das Herausschmuggeln der Briefe bezahlen«, sagte ich fröhlich. Ich erzählte kurz von der Charlie-Chaplin-Szene mit dem Spazierstock aus Birkenholz. Von Janusz und seinem gefälschten Hitler-Bärtchen. Ihr magerer Oberkörper krümmte sich vor Vergnügen. In diesem Moment liebte ich sie noch mehr.
    »Warum hast du das eigentlich getan, Ernst?«, neckte sie mich. »Warum hast du mir geschrieben?«
    »Aus demselben Grund, aus dem du zurückgeschrieben hast.«
    »Ach«, sagte sie. »Ich hatte nichts Besseres zu tun.«
    »Tröste dich: Sobald wir freikommen, kannst du mich ja gleich wieder sitzen lassen.«
    Sie sah mich an. Ich schluckte, suchte verzweifelt nach einer witzigen Bemerkung. Oder war das bloß feige? Sollte ich ihr nicht lieber meine wahren Gefühle gestehen?
    »Helena, ich …«
    Sie legte einen Zeigefinger auf meine Lippen.

30
    Mit den Deutschen werde es bald zu Ende gehen, besagten die Gerüchte, die ich von allen Seiten hörte. Gerüchte über eine Landung der Alliierten in der Normandie hielten sich so hartnäckig, dass ich ihnen allmählich Glauben schenkte. Mit dem Durchbruch der Engländer und Amerikaner im Westen und mit den von Osten her anrückenden Russen wuchs die Hoffnung der Häftlinge. Aber würden sie noch rechtzeitig eintreffen? Jeder Tag zählte, das war der alles beherrschende Gedanke.
    Auch die Deutschen waren nervös. Das merkte ich bei meinem zweiten Auftritt in der SS -Kantine. Während ein Sextett Lili Marleen zu Gehör brachte, wartete ich in der Küche auf meinen Einsatz. Der Kommandant war diesmal nicht anwesend, und weil zudem keine Soldaten an die Ostfront verabschiedet wurden, war es diesmal insgesamt viel ruhiger. Gleich neben der Tür saßen ein paar ältere SS -Männer an einem Tisch – grobe Kerle zwischen dreißig und vierzig. Ich hörte, wie sie gedämpft über die bröckelnde Moral in der Heimat sprachen, über eine verheerende Bombardierung Hamburgs, über die Verbissenheit der Russen und die Kampf kraft der Amerikaner. Sie klangen ernsthaft beunruhigt.
    Was wohl nach dem Krieg mit diesen Männern geschah? In diesem stinkenden, morastigen Winkel Europas hatten sie sich unsichtbar gewähnt, unsichtbar vor Gott und der Welt. Unsichtbare Menschen werden unmoralisch – hatte das nicht schon Plato gesagt? Vielleicht gab es noch mehr Lager. Gerüchte darüber hatte ich schon in den Niederlanden immer wieder gehört. Wie dem auch sei, bald würden sich diese Schufte rechtfertigen müssen. Aber ob ich das noch erleben würde? Würden sie die Häftlinge, die Augenzeugen, am Leben lassen?
    Ich beschloss, meine Auftritte anders zu gestalten. In den Tagen davor hatte ich verschiedene bunte Stofffetzen organisiert und aneinandergeknotet. Die zog ich vor meinem Publikum aus dem Mund. Ich bat einen der Anwesenden um eine Münze. Ich ließ sie in meiner Hand verschwinden, um sie dann wieder aus seinem Ohr hervorzuzaubern. Einfache, aber wirkungsvolle Tricks. Nach meiner Feuertaufe fand ich es angenehm, so wenig wie möglich sagen zu müssen.
    Es war Hochsommer. Jeden Tag stand mein Kellerfenster offen, damit ich die Amseln in den Pappeln besser hören konnte. Gegen Mittag flog regelmäßig eine Kohlmeise am anderen geschlossenen Fenster empor, um Spinnen aus dem Netz zu holen. Ich sah ihr gerne dabei zu und sog den süßen Fliederduft und den feuchten Geruch nach Erde ein,

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