Das Lachen und der Tod (German Edition)
der vom Sumpfland aufstieg. Allerdings nicht immer: Vor allem an warmen, windstillen Tagen überdeckte der Krematoriumsgestank alles andere.
Noch schlimmer waren die Verbrennungsgruben von Krematorium III. Dort wurden die Toten hineingeworfen, mit Benzin übergossen und angezündet. Es entstanden dicke schwarze Rauchwolken, die selbst außerhalb des Lagers weithin sichtbar sein mussten. Abends färbte sich der Himmel rot. Von einem Leichenträger hatte ich erfahren, dass diese Gruben an einer Seite steil abfielen. Dort war eine breite Zinkrinne eingelassen, in die das geschmolzene Leichenfett floss. Mit einer Schaufel wurden die menschlichen Überbleibsel ins Feuer zurückgeworfen, um das Inferno weiter zu entfachen.
Das war wieder eine dermaßen kranke Geschichte, dass sie wahr sein musste. Im Vergleich dazu war Block 24 die reinste Oase. Musik als Bollwerk. Am frühen Abend lief ich nach oben und lauschte hinten im Proberaum, wenn das Orchester etwas von Schubert oder Schumann einstudierte. Sogar ein deutscher Schlager konnte mich in seinen Bann ziehen, wobei ich vor allem die verbissenen Mienen der Musiker genoss. Die wussten ganz genau, dass sie banale Schlager besonders intensiv üben mussten, weil sie sich gerade in diesem Genre keinerlei Fehler erlauben durften.
An einem schwülen Sommerabend hörte ich, wie eine Oper von Puccini, Madame Butterfly, ungewöhnlich hingebungsvoll und eindringlich dargeboten wurde. Ich stand im Flur. Durch den Türspalt beobachtete ich den Kommandanten, der kerzengerade und mit gefalteten Händen wie in Trance auf einem Stuhl saß. Er war der einzige Zuschauer im Proberaum. Mit einem weißen Handschuh wischte er sich über die Augen.
Albert Kapinsky stand der Schweiß auf der Stirn. Gewohnt schwungvoll und energisch führte er sein Orchester durch die Partitur. Manchmal rückte er seine Hornbrille zurecht. Die Musiker vom »Außendienst« kehrten vom Abendappell zurück. Auch sie blieben wartend im Flur. Sie wirkten bedrückt. Ich fragte einen Cellisten, was passiert sei.
»Vier wurden gehenkt«, sagte er gefasst. »Sechs Leute eines Außenkommandos sind geflohen – Russen. Zwei von ihnen befinden sich noch auf freiem Fuß. Sie haben einen Kapo und zwei SS -Leute getötet. Die Deutschen waren außer sich. Noch vor dem Appell wurden die Kerle mit blutigen Köpfen an ein Holzkreuz gebunden. Danach kamen sie an den Galgen, den Gruppengalgen. Während des Hängens mussten wir auf Befehl des Kommandanten wieder Arien aus La Traviata spielen. Das ist seine Lieblingsmusik bei Hinrichtungen. Er bezeichnet sie als ›Todestango‹. Die Russen hatten die Augen verbunden, sie standen auf Stühlen und sangen mit dem Strick um den Hals die Internationale . Sie überstimmten uns. Bis die SS -Leute einen Stuhl nach dem anderen umtraten.«
Der Kommandant war nach wie vor ganz in die Musik versunken. Auf der Bühne würde Butterfly jetzt niederknien, um sich mit dem Messer ihres Vaters zu töten, bis plötzlich ein Kind auftaucht. Con onor muore . Nach dem getragenen Schlussakkord trat Stille ein. Langsam erhob der Kommandant sich, nickte dem Dirigenten zu und verließ den Raum. Seine zwei Adjutanten folgten ihm gehorsam.
Endlich durften wir hinein. Die Musiker reckten und streckten sich und legten ihre Instrumente in den Wandschrank. Ich sah Jakob mit seinen grauweißen Haaren und dem dunklen Schnurrbart. Er schien völlig in sich gekehrt. Seit dem Auftritt in der SS -Kantine hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Ich ging zu ihm, und wir gaben uns die Hand.
»Woran denkst du, wenn du Geige spielst?«, fragte ich.
Jakob sah den Mann neben sich fragend an, einen baumlangen Ungarn, der Akkordeon spielte. Der übersetzte meine Frage ins Ungarische. Der Zigeuner antwortete mit wenigen Sätzen.
»An nichts«, dolmetschte der Akkordeonspieler. »›Wenn ich spiele‹, so Jakob, ›dann gibt es keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur das Hier und Heute.‹«
»Dann bist du also kurz jenseits des Zauns«, meinte ich.
Jakob überlegte, sah mich dann strahlend an und sagte ein paar Worte. Der Ungar lächelte ebenfalls.
»In der anderen Welt gibt es keine Zäune.«
Jakob sagte noch etwas. Der Ungar übersetzte: »In der anderen Welt lebt meine Familie. Nur in der Musik kann ich bei ihr sein.«
»Stimmt es, dass Sie vier Kinder verloren haben?«
»Nein«, antwortete der Ungar an Jakobs Stelle. »Sechs. Vier Jungen und zwei Mädchen. Er war im Zigeunerlager ne ben dem Frauenlager
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