Das Lachen und der Tod (German Edition)
Müller, 28. April 1929, in ewiger Liebe.
Die Miene des Uhrmachers verfinsterte sich. »Diese Uhr bekam ich heute Morgen in verbeultem Zustand. Es ist eine Cortébert, eine teure Schweizer Uhr. Und soll ich Ihnen was sagen? Ich kannte diese Leute. Ben Müller war einer meiner Kunden. Diese Gravur habe ich höchstpersönlich angefertigt, das weiß ich noch genau. Jetzt ist die Uhr stehen geblieben – das ist doch fürchterlich.«
Ich legte ihm kurz die Hand auf die Schulter. Wir gingen weiter, vorbei an der Küchenbaracke mit stapelweise Seifenstücken und Zahnbürsten, gusseisernen Töpfen, Pfannen und Tausenden Besteckteilen. Ich staunte, wie viel Hausrat die Leute mitgenommen hatten. In wieder einem anderen Schuppen lagen meterhohe Schuhberge. Links die Herren-, rechts die Damen- und hinten Kinderschuhe. Einige Schuhe waren noch paarweise zusammengeknotet, wie man das im Auskleideraum angeordnet hatte.
»Gutes Schuhwerk können wir tatsächlich gebrauchen«, sagte ich.
Helena sah mich nur traurig an. »Diese furchtbaren Treter! Aber ich will das nicht, Ernst.«
»Das kann ich gut verstehen. Andererseits hat all das un serem Volk gehört. Ist es nicht besser, wir tragen diese Klei der und Schuhe statt Deutsche in Deutschland? Oder willst du weiterhin mit schmerzenden Füßen herumlaufen? Damit ist niemandem geholfen.«
Sie dachte nach, lief zu dem Berg und zog willkürlich ein Paar hervor. Sie musterte die Sohle. Nicht ihre Größe. Das nächste Paar. Auch nicht ihre Größe.
»Helena, schöne Schuhe sind ebenfalls erlaubt.«
Sie ignorierte mich.
Endlich hatte sie ein geeignetes Paar gefunden: altmodische Schuhe, zweifellos die einer älteren Dame. Ich kletterte auf den Berg mit Herrenschuhen und nahm mir ein Paar italienische Schuhe aus weichem Leder. Die Absätze waren kaum abgelaufen. Die Schnürsenkel sahen aus wie neu.
»Für meine Auftritte«, sagte ich.
Sie reagierte nicht darauf.
»Und jetzt ein Kleid für dich.«
»Muss das wirklich sein?«
Ich nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Helena, ich habe genauso viel Respekt vor den Toten wie du. Aber wir müssen weiterleben.« Ich gab ihr einen Kuss, nahm ihren Arm und führte sie in den Schuppen mit der Damengarderobe. Die Frauen, die mit dem Abtrennen der Judensterne beschäftigt waren, sahen kaum auf. Eine von ihnen warf mir einen verächtlichen Blick zu. Ich wusste genau, was sie dachte: Ein Kapo macht seinem Flittchen eine Freude.
Ich zog ein Abendkleid aus schwarzer Seide aus dem Haufen.
Sie schüttelte den Kopf. »Zu auffällig.«
Sie griff wahllos zu einem langen schwarzen Rock. Bestimmt stammte er von einer alten Frau, einer Nonne oder beidem.
»Jetzt hilf mir doch!«, sagte ich.
Ich begann, in dem Haufen zu wühlen, und zog ein weißes Sommerkleid hervor. Nicht zu lang und nicht zu kurz. Prüfend hielt sie sich das Kleid an.
»Dreh dich um!«, befahl sie.
»Ungern.«
Zum ersten Mal lachte sie. Sie trat einen Schritt beiseite, damit die Frauen am Tisch mit den Judensternen sie nicht sehen konnten, und zog ihren Rock aus. In meinem Beisein. Ich konnte den Blick nicht abwenden – ich musste einfach hinschauen. Langsam zog sie das Kleid an. Es saß perfekt. Sie drehte sich, sodass der Rocksaum flatterte.
»Fantastisch«, sagte ich.
Aus heiterem Himmel stürzte sie sich auf mich, und ich fiel rücklings in einen Kleiderhaufen. Sie gab mir einen langen Kuss auf den Mund und richtete sich dann wieder auf. Ich verbarg meinen Kopf zwischen ihren kleinen Brüsten.
»Ist da hinten alles in Ordnung?« Eine raue Bassstimme. Wir erstarrten. Vorsichtig spähte ich über den Berg Frauenkleider hinweg und entdeckte zwei SS -Männer neben dem Tisch. Einer von ihnen zündete sich eine Zigarette an. Der andere wühlte neugierig in der Kiste mit Wertgegenständen.
Eine Ewigkeit verging.
Sie liefen weiter.
Helena zupfte hastig ihr Kleid zurecht. Auf einmal betastete sie die Taschen – in einer war etwas drin. Ein Foto. Sofort erblasste sie. Ich nahm ihr das Bild aus der Hand und sah eine junge, strahlende Frau mit langen Haaren. Sie hatte das weiße Kleid an, das Helena gerade trug. Auf der Rückseite stand Eszther Bobic, 1943, Budapest.
Helena zog das Kleid aus und konnte die Tränen nur mühsam zurückhalten.
Wir mussten hier weg.
33
Das Wetter war ideal für einen Kindergeburtstag: trocken, windstill und warm, jedoch nicht schwül. In einem leeren Armeelaster wurden wir zur Villa des Kommandanten gebracht. Zwei SS -Wachleute stützten
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