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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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fahlen Mondlicht.
    37
    Das Spinnennetz zwischen den Gitterstäben hatte der Wind zerstört. Es war verlassen. Karl-Heinz hatte ich nicht mehr gesehen. Ich lebte wieder allein. Auf den Abend folgte die Nacht, darauf die frühe Morgenstunde und ein endlos langer Tag. Vielleicht hätte ich die verstreichenden Tage mit dem Daumennagel in den Beton ritzen sollen, aber wozu? Es ging nicht ums Hier und Heute. Es ging auch nicht um mich. Es ging um die Zeit danach. Um uns.
    Schritte. Ein Riegel wurde zurückgeschoben. Genau auf diese vertrauten Geräusche hatte ich in den letzten Stunden gewartet. Die Luke öffnete sich. Das war der Höhepunkt des Tages: Suppe, kurz vor Abendeinbruch, manchmal zusätzlich ein Stück Brot. Schnell reichte ich meinen sauber geleckten Napf hinaus und bekam einen vollen zurück. Der Wachmann schwieg. Er sagte nie etwas. Ich hatte einen Bart. Erkannte er mich denn nicht? Ich war es doch, Ernst Hoffmann, der Komiker! Das würde ich ihm das nächste Mal sagen.
    Plötzlich spürte ich einen stechenden Schmerz in der Wade. Sofort stand ich auf, um mein Bein zu dehnen. Dabei donnerte ich mit dem Hinterkopf an die Decke und stieß dabei aus Versehen meinen Napf um. Suppe auf dem Boden. Panisch schaufelte ich mir so viel wie möglich davon in den Mund samt Sand und Schmutz. Ich konnte nichts erkennen! Kleine Stückchen auf dem Boden des Napfes. Ich betastete sie mit den Lippen. Rüben. Oder Rübenkohl. Ich saugte an den nassen Flecken auf meiner Hose, dort wo ich mich mit Suppe bekleckert hatte. Ich weinte. Schrie. Schlug mit den Fäusten gegen die Wand, bis meine Knöchel bluteten.
    Ich legte mich hin und zog die Knie an.
    Ein Käfer krabbelte über die Zellenwand. Er kam von draußen. Ich versperrte ihm mit meinen Fingern den Weg und sorgte dafür, dass er in meine hohle Hand fiel. Ich aß ihn lebend. Die Körpersäfte des Tieres schmeckten bitter, und der Panzer und die Flügel knirschten hörbar zwischen meinen immer lockerer sitzenden Zähnen. Ich starrte in die Dunkelheit und kaute.
    So langsam verlor ich Zeitgefühl. Stunden, Tage und Wochen vergingen, ohne dass ich sie zählen konnte. Ich hörte Männer, die auf dem Innenhof jammerten und flehten: Bitte, bitte nicht. Ich bin noch so jung. Bis der Schuss knallte. Immer nur ein Schuss. Dann zuckte ich zusammen. Eines Tages würde ich an der Reihe sein. Eines Tages. Aber nicht heute, nicht heute, haha!
    Tagsüber war Helena bei mir. Ich sprach mit ihr. Sie antwortete mir zwar nie, doch das tat Gott auch nicht. Ich spürte, wie ihre Finger über mein Gesicht strichen, spürte eine raue, ledrige Hand, die mich zart streichelte. Ich fürchtete mich vor den Nächten. Nach dem einen Besuch war sie nie mehr zurückgekommen. Warum, wusste ich nicht.
    Jetzt sah ich Scharen von Menschen an mir vorbeiströmen, Hunderte von Menschen, ein Strom aus mageren, leichenblassen Gerippen mit hängenden Schultern und erloschenen Blicken. Eines von ihnen stand vor mir und hatte mir das Gesicht zugewandt. Es war der Belgier mit dem eingeschlagenen Schädel. An seinem blutverkrusteten Gesicht klebten Sand und Schmutz. Er lispelte etwas von wegen nach Hause kommen und einem günstigen Wind, als wisse er nicht, dass er ganz woanders war. Ich drehte den Kopf weg, aber wo immer ich hinsah, stand er vor mir. Selbst hier, im Dunkeln.
    Es wurde kälter. Noch kälter. Ich fror bis ins Mark. Durch das Kellerfenster sah ich, wie die allerletzten Blätter vorbeiflogen, vergilbt und verwittert. Jetzt war es schon tagsüber dunkel. Es stürmte und regnete. Ich hörte, wie es über dem Lager donnerte.
    Gott hatte endlich mitbekommen, was hier geschah. Es regnete so stark, dass das Wasser vom Sandboden aufspritzte. Kuhlen entstanden, und Regen rann in meine Zelle. Mit meinem Suppennapf konnte ich ihn auffangen und trinken. Es reichte sogar, um mich damit zu waschen!
    Flugzeuge. Sie flogen tief über das Gelände und übertönten den Donner. Ich spürte, wie der Boden bebte. Mein Vater hatte ebenfalls in einem feuchten, kalten Laufgraben gesteckt, auch er in ständiger Angst vor dem Tod.
    Die Luke wurde einen Spaltbreit geöffnet. Suppe. Mit Brot. Und eine Decke!
    »Ich heiße Reinhard Schmidt«, sagte eine monotone Stimme auf Deutsch. »Schmidt mit dt: Merken Sie sich diesen Namen. Für nach dem Krieg. Reinhard Schmidt.«
    Ich wickelte mich sofort in die Decke. Reinhard Schmidt mit dt. Kannte ich ihn? Was redete er da? Für nach dem Krieg?
    Am nächsten Morgen bekam ich zwei Stück

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