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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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Loch zurückgestoßen. Meine Kleider warf man mir hinterher.
    Es war kühl und stockdunkel. Mehr und mehr kehrte mein Bewusstsein zurück. Es war bestimmt eine Stunde vergangen. Mein Kopf pochte. Die blutigen Striemen auf meinem Rücken brannten und spannten bei jeder Bewegung. Der Mensch erträgt den größten Schmerz, wenn er das Leiden wert ist. Das hatte mein Vater einmal gesagt, aber mehr zu sich selbst als zu mir. Und zwar als er frisch aus dem Krieg zurückgekehrt war. Nun verstand ich ihn, zumindest glaubte ich das: Schicksalsergebenheit und ein unerschütterlicher Glaube an die eigenen Kräfte spenden so etwas wie Trost, und mag er noch so verschwindend gering sein. Um mich aufzuwärmen, zog ich die Kleider über meinen Oberkörper und versuche so, wenigstens etwas zu schlafen.
    Vogelgezwitscher weckte mich. Das erste Morgenlicht fiel schräg durchs Fenster. Ich klapperte mit den Zähnen – obwohl der Herbst gerade erst begonnen hatte, war es bitterkalt. Um diese Zeit zogen die Musiker zum Tor, um das Außenkommando musikalisch zu begleiten. Wer war ermordet worden? Kapinsky? Dann wäre das Orchester mit einem Schlag führungslos geworden. Ich vermisste Grossos Schnarchen. In welchem Universum er jetzt wohl umherirrte? Und würde er den Unterschied überhaupt bemerken?
    Der Sonnenstrahl war weitergezogen. Ich war erneut kurz »weg« gewesen, insoweit das unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich war. Wie oft würde man mich noch verhören? Wie lange würde es dauern, bis ich daran zerbrach? Selbst wenn ich es schaffte, trotz Schlägen bei der Wahrheit zu bleiben, brauchte ich mir keine Illusionen zu machen: Ohne Protektion von höherer Stelle würde ich in dieser Zelle verrecken.
    Eine Kreuzspinne fing an, zwischen den Gitterstäben ein Netz zu weben. Ich fand es faszinierend zuzusehen, wie immer mehr Faden aus ihrem Hinterleib kam und mithilfe der Beine verwoben wurde. Als das Netz fertig war, begann das Warten – für sie und für mich. Erst nach Stunden blieb eine kleine Mücke am klebrigen Faden hängen. Die Spinne stürzte sich darauf, lähmte ihre Beute und wickelte sie langsam ein. Jetzt musste die Mücke ebenfalls warten, und zwar auf den Tod.
    Ich taufte die Spinne auf den Namen Karl-Heinz.
    Ich fühlte mich hundeelend, hatte Hunger und Durst, vor allem Durst.
    Ich stellte den Eimer in eine Ecke, zog meine Hose herunter und urinierte. Der Harnstrahl prasselte in den Zinkeimer. Anschließend legte ich mich auf die Seite. Was jetzt? Sollte ich mir eine Aufführung ausdenken? Um dann über meine eigenen Witze zu lachen?
    Ich hörte ein Flugzeuggeräusch. Es klang irgendwie anders. Ein Russe?
    Gekackt. Kein Klopapier. Mich mit der Hand abgewischt, denn angetrockneter Kot beginnt sofort zu jucken. Den Kot an Wand und Gitterstäbe geschmiert.
    Eine Obstfliege blieb am klebrigen Spinnwebfaden hängen. Schnell riss ich sie weg, bevor Karl-Heinz zur Stelle war. Ich hätte die dicke Spinne natürlich einfach zerquetschen können, aber ich hungerte sie lieber aus.
    Ich wartete. Auf die Suppe, die nicht kam. Auf Wasser, das nicht kam. Mir fiel wieder ein, wie ich als Kind oft im Bett lag und vor lauter Magenknurren nicht einschlafen konnte. Ich weigerte mich hartnäckig, Panhas zu essen – erst recht, nachdem mir Geertje, unsere Haushälterin, erklärt hatte, dieses ekelhafte Gericht würde aus in Blut gekochten Schlachtabfällen zubereitet. Zwischen den einzelnen Heulattacken lauschte ich aufmerksam auf das ersehnte Knarren der Treppe, auf die sich öffnende Tür, auf meinen Vater, der mit ein paar ermahnenden Worten und einer Scheibe Rosinenbrot erscheinen würde. Doch manchmal kam er gar nicht. Oder es setzte Schläge.
    Man hatte mich doch nicht etwa vergessen?
    Eine Tür ging auf. Ich versuchte durch die Gitterstäbe zu spähen, konnte aber niemanden sehen. Ein Mann sang ebenso verängstigt wie tapfer. Es hörte sich an wie ein polnisches Volkslied. Ein trockener Pistolenknall, danach wurde es still. Schritte. Unverständliches Gemurmel auf Deutsch. Die Tür fiel wieder zu.
    Eines Nachts kam Helena. Sie war es tatsächlich – ich berührte ihr Gesicht und lachte wie ein Wahnsinniger. Sie strich mir übers Haar und beruhigte mich. Sie wollte bloß wissen, was ich genauso dringend wissen wollte: Warum ich festgehalten würde. Wann man mich wieder freiließ. Wie weit die Russen noch weg seien. Ich hörte, was ich hören wollte: Sie war nach wie vor Kindermädchen beim Lagerkommandanten, die

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