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Das Lachen und der Tod (German Edition)

Das Lachen und der Tod (German Edition)

Titel: Das Lachen und der Tod (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pieter Webeling
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Gymnastikübungen machen. Er versuchte, meine Arme und Beine zu dehnen, aber meine Gelenke waren wie eingerostet. »Du musst dich bewegen, Holländer!«, sagte er nachdrücklich. »Du musst wieder in Form kommen. Du wirst deinen Körper noch brauchen.«
    Er schickte mich Kohlen holen.
    Die Baracke 5 befand sich im Außenlager. Es handelte sich um einen Schuppen ohne Ofen und Pritschen mit einem meterhohen Berg Kohlen, einem kaputten Fenster und einem undichten Dach. Waren das die Vorräte der SS ? Eine lange Schlange hatte sich gebildet, die jedoch schnell kürzer wurde. Ich betrachtete die Männer vor mir, die gelassen warteten, ihre niedergeschlagenen Mienen und ihre gegerbten Gesichter. Sie waren von Kälte und Entbehrungen gezeichnet. Plötzlich wurde mir bewusst, dass ich keine Züge mehr gehört hatte.
    Zwei Kapos standen bereit, um die Kohlen in einen Papiersack zu schaufeln. Ich musste an den Zementsack denken, auf den ich meine Liebesbriefe an Helena geschrieben hatte. Das schien eine Ewigkeit her zu sein. In gewisser Weise war dem auch so. Ich war dem Kerker der Bastille entronnen, auch wenn ich nicht wusste, wie.
    Mit einem scharrenden Geräusch glitt die Kohlenschaufel in die glänzende Masse. Drei Schaufeln pro Sack. Die Kohlen waren schwerer als gedacht. Beim Laufen in der schneidenden Kälte wurde mir sogar warm. Nicht zuletzt, weil Schlomo mir zwei Jacken und zwei Hosen angezogen hatte.
    In der Baracke wartete bereits der Kessel mit der Suppe. Die Suppe war nicht dicker als sonst, aber es gab mehr Brot. Mit einem Stück Draht hatte Schlomo einen Tannenzweig an einem der Balken befestigt. Ein paar dünne Äste hatten ihre Nadeln bereits verloren – trotzdem. Soweit ich das beurteilen konnte, besaß keine andere Baracke einen Tannenzweig – es war mir überhaupt ein Rätsel, wo Schlomo den herhatte. Mithilfe ein paar trockener Birkenzweige loderte Feuer auf, und die Kohlen begannen zu glühen. Nach einer halben Stunde war es warm um den Ofen. An die hundert Mann umringten ihn. Einige Franzosen hatten ein paar Schachteln Zigaretten aufgetrieben. Die Zigaretten gingen von Hand zu Hand, jeder durfte einmal ziehen.
    Jemand begann, Stille Nacht, heilige Nacht zu singen. Es klang falsch und dünn, aber die Stimme durchdrang die Stille. Wir stimmten mit ein, wir alle, mit unseren zerbrechlichen, heiseren Männerstimmen. So viel Zusammenhalt hatte ich selten im Lager erlebt. Aber schon am nächsten Tag konnte es damit wieder vorbei sein.
    Schlomo stellte sich auf eine Holzkiste.
    »Liebe Mitmenschen«, sagte er, »denn das seid ihr: Men schen. Ich wünsche euch Frohe Weihnachten. Wir haben einen Komiker unter uns. Ja, einen Komiker. Am liebsten würde ich ihn hier sehen, wo ich jetzt stehe. Damit er auftreten kann. Vor uns.«
    Klatschen. Johlen. Ich erschrak. War das sein Ernst?
    »Aber«, fuhr Schlomo fort, »mein Freund ist schwer gezeichnet. So wie wir alle hier mehr oder weniger Schaden genommen haben. Aus diesem Grund halte ich eine kleine Ansprache: An Weihnachten feiern wir Christi Geburt. Aber die Germanen, was feiern sie? Die Rückkehr des Lichts! Von nun an werden die Tage länger. Und das ist etwas, das alle hier feiern können, egal ob sie nun Katholiken, Juden oder Kommunisten sind: die Rückkehr des Lichts!«
    Schlomo hielt wieder eine Predigt, und eine Holzkiste war die Kanzel. Mit viel dramatischem Gespür sah er zum Himmel empor. Anschließend musterte er wieder seine Gemeinde. Er legte eine Pause ein. In der Baracke wurde es still.
    »Dieser Ort hat sich vor den Augen Gottes versteckt«, sagte er. »So habe ich mir das immer vorgestellt. Ich war böse auf Gott. Jetzt bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. Aber ich hoffe, dass ihr die Kraft habt, durchzuhalten. Dass ihr das Licht sehen werdet. Der Teufel wird nicht den Sieg davontragen. Er wird niemals über die Macht des Guten siegen. Und deshalb, liebe Mitmenschen, lasst uns jetzt Christi Geburt und die Geburt des Lichts feiern.«
    Er forderte uns nicht auf zu beten.
    39
    Die letzten Tage des Jahres verbrachte ich in meinem Künstlerzimmer in Block 24. Albert Kapinsky war, wie ich bereits vermutet hatte, tot. Gemeinsam mit sechs willkürlich ausgewählten Musikern hatte man ihn auf dem Appellplatz gehenkt, während seine eigenen Leute Arien aus La Traviata von Verdi spielen mussten. Von den übrig gebliebenen Orchestermitgliedern hielt ich mich fern. Jeden Tag hörte ich sie proben, aber ohne von Albert Kapinsky beseelt zu sein, spielten

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