Das Lachen und der Tod (German Edition)
schweigend da. Seine Hand lastete schwer auf meinem Rücken, und das tat weh, aber es war mir egal.
Wir betraten die Baracke. Dort war alles beim Alten: rei henweise Holzpritschen, Stockbetten. Wir gingen in sein Zim mer. Er hängte mir eine Decke um, gab mir Brot und kalten Tee. Zur Feier meiner Heimkehr, so lächerlich das auch klang.
Schlomo schüttelte den Kopf. »Holländer …«
Ich dachte an Armand, den Franzosen, dessen Nachnamen ich nie erfahren hatte. An Janusz, der Hitler in Stalin verwandelt hatte. An Simon Lewenthal aus Wien. Lebte er noch? Ich wagte nicht, danach zu fragen.
»Warst du in Block 11?«, fragte Schlomo.
»In Block 11, ja.«
»Was ist mit deiner Frau passiert?«
Etwas begann in mir zu glimmen. »Helena? Keine Ahnung.«
»Welchen Tag haben wir heute? Weißt du das?«
»Nein beziehungsweise doch: Ich hörte was von Weihnachten.«
»Heute ist Heiligabend. Deshalb haben sie dich freigelassen.«
Ich nickte zerstreut.
Schlomo nahm mein Gesicht in beide Hände. »Du bist im Lager, Holländer. Aber was noch viel schlimmer ist: Das Lager ist in dir.«
Ich wusste nicht recht, was ich darauf sagen sollte.
»Geh schlafen! Ich wecke dich zum Abendappell. Das Orchester spielt dann Weihnachtslieder. Das machen sie jedes Jahr.«
Schlomo kümmerte sich um mich wie ein Hirte um sein verlorenes Schaf. Ich legte mich auf seine Pritsche, der Strohsack fühlte sich weich an. Er breitet eine Decke über mich. Ich lag da wie ein Embryo. Langsam streckte ich meine Beine. Das ging hier.
Gegen Abend marschierte ich wieder in einer langen Reihe mit Häftlingen, so wie ich es schon viele Male getan hatte. Wir waren unterwegs ins »Dorf«. Auf dem Appell platz stand ein Weihnachtsbaum, der bestimmt vier Meter hoch war. Mit einer elektrischen Lichterkette. Unter dem Baum lagen sechs, sieben Leichen.
Das Orchester spielte Stille Nacht, heilige Nacht. Ich versuchte, die Gesichter der Musiker zu erkennen. Ich sah Jakob! Er spielte mit fingerlosen Handschuhen Geige. Außer dem erkannte ich einen Posaunisten, einen Flötisten und den Perkussionisten. Der Dirigent war nicht Albert Kapinsky. Aber das hatte ich bereits an den Musikern gehört, die miserabel spielten.
Weihnachten war bei uns zu Hause nie groß gefeiert worden. Im Gegensatz zu meinem Vater und Geertje war meiner Mutter diese Tradition wegen ihrer jüdischen Herkunft fremd. Einen Weihnachtsbaum hatten wir nie, dafür hingen in Wohnzimmer und Flur Tannenzweige, die mit roten Schleifen geschmückt waren. Und die weißgelben Kerzen im Cha nukkaleuchter brannten den ganzen Tag. In seinem Arbeitszimmer spielte mein Vater Jingle Bells – eine alte, knisternde Grammofonplatte. Geertje hatte mir einmal erzählt, dass sie den Text von Anfang bis Ende mitsingen konnte. Aber das war vor dem Ersten Weltkrieg gewesen.
Auf einmal sah ich sie da stehen: den lachenden Lagerkommandanten und ein paar SS -Offiziere. Hatte das »Gasattentat« Grossos noch Konsequenzen für ihn gehabt? War Helena noch bei ihm? Oder war sie ins Frauenlager zurückgeschickt worden? Am liebsten wäre ich aus der Reihe getreten, um ihn direkt darauf anzusprechen.
Die Zählung stimmte nicht. Verwirrung. Listen wurden nebeneinander gelegt. Es gab einen zu viel. War jemand zu Unrecht für tot erklärt worden?
Ich trat vor. »Häftling 173545 meldet sich, Herr Unterscharführer. Ich gehöre zur Baracke 24.«
Ich schielte zum Kommandanten hinüber. Der nickte. Mir fiel auf, dass er über meine Anwesenheit nicht im Geringsten erstaunt war. Er lief nach vorn und flüsterte seinem Untergebenen etwas ins Ohr. Der befahl mir mit einer Geste, zurück ins Glied zu treten. Ich gehorchte. Das Orchester begann, Oh Tannenbaum zu spielen. Ich betrachtete den Baum und die Toten darunter. Sie hatten bis Weihnachten durchgehalten, oder bis kurz davor.
Das Weihnachtsgeschenk der SS war Wärme. Wir konnten es kaum fassen: Jede Baracke bekam drei Schaufeln Kohlen, die man sich in Block 5 abholen konnte. Zu diesem besonderen Anlass bekamen wir auch eine besonders nahrhafte Suppe mit Brot. Es war bitterkalt, und so dauerte der Appell nicht lange. Während die Gefangenen zu den Baracken zogen, spielte das Orchester einen Teil aus Bachs Weihnachtsoratorium. So war es zumindest geplant. Aber die Darbietung war dermaßen beschämend, dass sie notgedrungen wieder damit aufhören mussten, weil ein SS -Offizier begann, den Dirigenten zu misshandeln.
Auf Schlomos Befehl hin musste ich in der Baracke
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