Das Laecheln der Chimaere
plötzlich eine ganz andere Stimme, ein resoluter Bariton. Offenbar hatte Kolossow am anderen Ende die Freisprechanlage eingeschaltet, und jemand anders mischte sich ins Gespräch ein. »Hier ist Major Obuchow. Vom RBOV, der Regionalverwaltung für die Bekämpfung des organisierten Verbrechertums. Na, wirst du wieder nüchtern? Raus mit der Adresse! Und auch mit allen anderen Adressen, falls es solche gibt, wo wir den Legionär zusammen mit dem Sohn deines Bosses finden könnten! Ist dir überhaupt klar, dass ich hier deine Arbeit erledigen muss, du . . . du . . . So was nennt sich nun Sicherheitschef!«
»Aber was ist denn los? Was ist passiert?«, fragte Kitajew. Sein Rausch war plötzlich verflogen, als habe sich ein Schleier gehoben, und er spürte, wie eine widerliche, klebrige Kälte sich von unten über seinen Rücken ausbreitete.
»Was passiert ist? Der Maulwurf saß direkt unter deiner Nase, und du hast ihn dir durch die Lappen gehen lassen!«, kläffte Obuchow. »Der Legionär hat zusammen mit Chwantschkara im Knast gesessen. Sie waren gleichzeitig im selben Straflager. Kapierst du? Er ist es, er ist euer Maulwurf. Und die ganze Zeit ist Saljutows Sohn in seiner Gewalt. Im Fall des Falles ist er das nächste Opfer. Also her mit der Adresse!«
Eine lange Pause folgte. Schließlich fand Kitajew seine Sprache wieder: »Natürlich, sofort. . .«
Wenige Augenblicke später stürzte er wie von allen bösen Geistern gehetzt aus der Bar ins Vestibül und wollte die Treppe hinauf nach oben, ins Büro. Er durfte keine Sekunde mehr verlieren. Aber der Anblick, der sich ihm im Vestibül bot, ließ ihn wie angewurzelt stehen bleiben.
Die Eingangstür zum Kasino war sperrangelweit aufgerissen. In der Türöffnung sah Kitajew in einem Schleier aus Schnee und aschgrauer Dämmerung eine bekannte Gestalt: Saljutow. Er stand mit dem Rücken zu Kitajew auf den Stufen seines »Hauses«, nur im Jackett, ohne Mantel, und schien weder den Wind noch den Schnee zu bemerken. In der rechten, schlaff herabhängenden Hand hielt er einen matt glänzenden Gegenstand. Kitajew wollte seinen Augen nicht trauen – wie konnte das sein . . . Nein, das war nicht möglich . . . Das war nicht möglich!
Saljutow hob die Hand und setzte ungeschickt, als posiere er für eine Filmszene, die Pistole an seine Schläfe.
»Nicht! Waleri Wiktorowitsch, nicht!! Ich bitte dich, tu das nicht! Hör mich zuerst an!«
Er erkannte seine eigene Stimme nicht wieder. Niemals hätte er gedacht, dass er, Gleb Kitajew, überhaupt imstande wäre, derart zu schreien.
30
Trotz allem beschloss Katja, das einmal Begonnene zu Ende zu bringen und über die getane Arbeit Bericht zu erstatten. Nikita sollte sich ein für allemal hinter die Ohren schreiben, dass sie nicht zu den Leuten gehörte, die ihre kostbare Zeit sinnlos verplemperten.
Bevor sie sich wieder hinunter in die Mordkommission begab, studierte sie zunächst ihr Äußeres lange und kritisch in ihrem Taschenspiegel. Make-up, Outfit – alles bestens. Diese »Brautschau« hob ihre Laune sofort beträchtlich. Auch dass der Schnee, der ganz Moskau unter tiefen Verwehungen begraben hatte, endlich aufgehört hatte zu fallen, der Himmel sich aufklärte und eine kalte, schüchterne Sonne hervorlugte, trug zu ihrer guten Stimmung bei. Zufrieden klappte sie die Puderdose zu, warf sie in die Schreibtischschublade und stapfte entschlossen hinunter.
Kolossows Büro war offen, er selbst jedoch nicht zu sehen. Die ganze Szenerie – der aufgerissene Schrank, die auf den Stuhl geworfene Lederjacke, die Armeetasche, die Taschenlampe und die durchnässten Lederhandschuhe zeugten davon, dass der Chef der Mordkommission die letzte Nacht unter freiem Himmel verbracht hatte. Katja hängte die Jacke in den Schrank und legte die Handschuhe zum Trocknen auf die Heizung.
»Guten Tag, Katja.«
Sie drehte sich um. Kein Zweifel – er hatte eine schlaflose Nacht hinter sich: unrasiert, rote Augen, das Gesicht verwittert und verschwollen.
»Guten Tag«, antwortete sie und setzte sich. »Ich weiß nicht, Nikita, vielleicht hast du schon wieder zu tun, aber ich brauche bestimmt nicht mehr als zehn Minuten, und ich muss dich unbedingt. . .«
»Sprich nur, ich bin ganz Ohr.« Kolossow setzte sich auf den Schreibtisch.
Er lauschte ihr wirklich aufmerksam, aber gleichzeitig auch irgendwie entrückt. Katja berichtete ihm genauestens von ihrer Begegnung mit Marina Saljutowa, bemühte sich, das Gespräch in der Sauna und die Szene im
Weitere Kostenlose Bücher