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Das Laecheln der Chimaere

Das Laecheln der Chimaere

Titel: Das Laecheln der Chimaere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tatjana Stepanowa
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trinken, wie angestochen in ihren billigen Autos durch die Gegend rasen und aus dem nichtigsten Anlass der Umwelt ihre Macht demonstrieren.
    Die Russen bildeten in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Vitas Taurage hatte in seinem bunten Leben genügend Vergleichsmaterial sammeln können. Die Polizei der deutschen Stadt Duisburg zum Beispiel, in der er einige Jahre verbracht hatte und die er aus einer ganzen Reihe von Gründen überstürzt verlassen musste, war noch schlimmer. Als illegalen Einwanderer hielt man Vitas dort einen vollen Monat in Haft. Die finnische Polizei war faul und wortkarg, aber gnadenlos: Ohne lange Diskussionen nahmen die Polizisten Vitas die mühevoll erworbene Lizenz zum Handel mit Gebrauchtwagen weg und schoben ihn ab.
    Am harmlosesten war die Polizei von Amsterdam. Doch auch in dieser relativ liberalen Stadt musste Vitas drei Tage hinter Gittern schmoren, während die Polizei sich mit der Einwanderungsbehörde verständigte. Und seine Zellengenossen – ein Pole, zwei Nigerianer und ein Türke aus Sarajewo – prügelten ihm nachts in der Zelle die Seele aus dem Leib, nachdem sie herausbekommen hatten, dass Vitas Geld bei sich hatte.
    Auch Amsterdam musste er verlassen. Zurück nach Hause fahren. Und dann . . .
    Vitas drehte Wagner lauter und zündete sich eine Zigarette an. Nachdenklich schaute er aus dem Fenster auf den von Lichtern überfluteten Gartenring. Nicht ein einziges Mal hatte er bisher bedauert, aus Litauen nach Moskau zu seiner Schwester Egle gezogen zu sein. Im »Roten Mohn« konnte man sich durchaus ein Polster für Notzeiten verdienen.
    Seine Schwester allerdings machte ihm Sorgen. Mehr noch: Sie brachte sein kühles nordisches Temperament zum Kochen. Seine Schwester war offenbar verrückt geworden. Völlig durchgeknallt! Hatte vergessen, wer sie war. Hatte ihren Stolz verloren und wollte nicht begreifen, dass ein Mitglied der Familie Taurage, die vor einigen Jahrhunderten über Land in ganz Samogitien und Tausende von Drushinen gebot, die die alte livonische Stadt Insterburg stürmte, nicht so tief sinken darf, sich in eine unterwürfige Sklavin ihrer animalischen Instinkte zu verwandeln.
    Aber auf alle seine Vorhaltungen wiederholte Egle immer nur, dass sie diesen Mann liebe und nicht ohne ihn leben könne.
    Jesus Maria! Was war das denn für ein Mann? Ein heruntergekommener Trinker, ein Gauner, der sein ganzes Geld beim Kartenspiel durchbrachte. Diesen widerlichen Gasarow liebt sie! Seine Schwester Egle, die kluge, schöne Egle, die zuhause von der ganzen Familie vergöttert und auf Händen getragen wurde, für die er, Vitas, der älteste Sohn der Familie, die Universität verlassen hatte und auf der Suche nach Arbeit durch halb Europa, durch Deutschland, Finnland, Schweden und die Niederlande gezogen war, nur damit es ihr an nichts fehlte und sie ihre Ballettschule besuchen konnte . . .
    Vitas Taurage betrachtete das nächtliche Moskau, diese fremde Stadt. Sie war zu groß für ihn und seine Schwester. Er hatte sich in allen europäischen Großstädten, in denen er längere Zeit gewesen war, unwohl gefühlt. Und hier gab es noch nicht einmal ein Meer. Das Meer hatte er schon immer geliebt, dort war er ja aufgewachsen.
    Er hatte davon geträumt, in diesem Sommer mit seiner Schwester ans Meer zu fahren. Großzügig hatte er ihr Geld für ihre Unkosten gegeben. Die Visa waren bereits ausgestellt, die Flugtickets gekauft. Da erfuhr er im allerletzten Augenblick, dass seine Schwester das Ticket heimlich verkauft und alles Geld Gasarow gegeben hatte, damit der seine Spielschulden bezahlen konnte. Auch alles übrige hatte sie ihm gegeben: Möbel und Hausrat zum Verkaufen, den Brillantring, den ihr Bruder ihr geschenkt hatte, ihren Arbeitslohn. Gasarow nahm sie aus wie ein Strauchdieb, wie ein schamloser Erpresser, wie ein erbärmlicher Gigolo. Er plünderte sie aus bis aufs Hemd und verspielte alles bis zum letzten Groschen, denn nicht einmal zum Kartenspielen hatte er genug Grips.
    Und so ging es nun schon, seitdem er nach Moskau zu seiner Schwester gezogen war. Weder Bitten noch gute Worte, nicht einmal Drohungen halfen. Egle war wie verhext und erduldete von Gasarow alles mit einer Ergebenheit, die Vitas zur Weißglut brachte. »Ich liebe ihn«, wiederholte sie nur immer wieder wie eine auswendig gelernte Lektion.
    Die letzten Takte der Walhalla waren verklungen. Vitas zündete sich eine zweite Zigarette an. Ein klarer, einfacher Gedanke kam ihm nach der Musik Wagners in den

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