Das Laecheln der Chimaere
wusste ich nicht. Zuerst gab es im Saal sowieso Geschrei, in der Toilette hätte jemand Selbstmord begangen.«
»Das Geschrei war vor der Ankunft der Miliz?«
»Ja, ein fürchterlicher Lärm . . .« Vitas hob seinen Blick zu Kolossow und lächelte verwirrt.
»Aha, das heißt, Sie haben sich doch von Ihrer Pokerpartie ablenken lassen«, bemerkte Kolossow. »Wissen Sie, von dieser Musik wird man ja taub! Ich schalte sie aus.«
»Mögen Sie Wagner nicht?«, erkundigte sich Vitas.
»Ich begreife nicht, wie man diesen Lärm mögen kann. Walhalla . . . Das ist das Paradies, nicht wahr?«
»Ja, das Paradies. Die himmlische Wohnstatt der Toten.«
»Da ist mir ja die Hölle lieber als so ein Paradies . . . Also, versuchen Sie sich genau zu erinnern, waren Sie an jenem Abend in der Toilette?«
»Nein«, antwortete Vitas. »Und diesen Wärter habe ich nie gesehen, ich weiß nicht einmal, wie er aussah.«
»Tja, dann«, meinte Nikita enttäuscht. »Das wäre von meiner Seite alles. Ihre Papiere . . . behalte ich vorläufig bei mir. Alle außer dem Führerschein. Wenn Sie zum Verhör bei der Staatsanwaltschaft vorgeladen werden, bekommen Sie sie zurück.«
»Dazu haben Sie kein Recht«, sagte Vitas kalt. »Ich brauche meine Papiere. Und außerdem bin ich Bürger eines anderen Landes.«
»Aber Sie wollen ja nicht die Wahrheit sagen.« Kolossow seufzte. »Was bleibt mir da anderes übrig?«
»Sie überschreiten Ihre Dienstvollmachten, ich werde mich beschweren.«
Kolossow öffnete demonstrativ die Tür seines Shiguli, um zu verstehen zu geben, dass dieses unerfreuliche Gespräch voller Ausreden und Ausflüchte für ihn beendet war. Vitas stieg aus.
»Gehört das Zimmer in der Kommunalwohnung Ihnen oder Ihrer Bekannten?«, fragte Nikita, als Vitas schon auf der Straße stand. »Wie heißt Ihre Bekannte? Oder muss ich selbst zur Ausweiskontrolle hinaufgehen?«
»Sie heißt Egle Taurage und ist meine jüngere Schwester.«
»Ihre Schwester? Was Sie nicht sagen . . . Und mit wem haben Sie mich verwechselt, dass Sie mir gleich den Schädel einschlagen wollten?«
Vitas schwieg. Seine beleidigte Miene zeigte deutlich, dass er das für eine rein persönliche Angelegenheit hielt,
»Bei der Staatsanwaltschaft sollten Sie sich besser genau daran erinnern, was an jenem Abend im Kasino wirklich geschah«, sagte Kolossow hart. »Sicher können weder Sie noch Ihre Schwester Unannehmlichkeiten mit der Visabehörde brauchen.«
»Versuchen Sie nicht, mich einzuschüchtern, ich habe nichts Illegales getan.« Vitas wickelte sich fester in seinen schicken orangefarbenen Schal. »Sie wissen ja nicht einmal, wie man richtig mit Leuten redet! Und dann wollen Sie einen Mord aufklären!«
»Du hast mich nicht zu belehren. Und merk dir: Eine Lüge verzeihe ich auch einem Zeugen nicht.«
Damit trennten sie sich. Kolossow brauste von dannen, und die aus dem Radio donnernde wagnersche Walhalla hüllte ihn ein wie eine Gewitterwolke. Die Wut würgte ihn, Wut auf diese Musik, von der er nicht die Bohne verstand, auf diesen baltischen Schnösel, der gleich mit den Fäusten auf ihn losgegangen war und ihn zu allem Überfluss auch noch dreist angelogen und die offensichtlichsten Dinge abgestritten hatte, Wut auf den beißenden Frost und auf diese im tiefen Schnee versinkende Straße.
Außerdem wurde er das Gefühl nicht los, dass er mit seiner aufbrausenden Art, seinem Zorn und seinem übereilten Abgang einen groben Fehler beging. Doch zu diesem Zeitpunkt wusste Nikita noch nicht, worin sein Fehler bestand. Vielleicht darin, dass er keine gemeinsame Sprache mit diesem Vitas gefunden hatte oder darin, dass er doch nicht mehr nach oben, in das Zimmer mit der Eisentür, gegangen war, um von Egle Taurage selbst zu erfahren, mit wem ihr älterer Bruder ihn verwechselt hatte?
15
Vitas Taurage entfernte sich nicht weit von der Mytnaja-Straße. Er parkte seinen Wagen am Gartenring.
Nachdem er sich aus dem fremden Shiguli in seinen eigenen VW gesetzt hatte, schaltete er sofort das Radio ein. Wagner inspirierte ihn und half ihm beim Nachdenken. Und es gab einiges, worüber er nachdenken musste.
Das Erste, was Vitas nach dem Gespräch mit Kolossow in den Kopf kam, war: Die Polizei ist überall gleich. Offensichtlich ist es in allen Ländern eine ganz besondere Sorte Menschen, die von der stürmischen Strömung des Lebens zur Polizei gespült wird: geistig minderbemittelte Kraftprotze, die in der hölzernen Sprache ihrer Protokolle reden, Bier und Wodka
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