Das Lächeln der Sterne
ursprünglichen Geruch des Lebens selbst. Die Muschel war mittelgroß, perfekt geformt, ohne einen Riss – so etwas nach einem Sturm in der rauen Brandung an den Outer Banks zu finden, war fast unmöglich. Ein Omen, hatte Adrienne damals gedacht, und sie erinnerte sich, wie sie die Muschel ans Ohr gehalten und gesagt hatte, sie könne das Rauschen des Ozeans hören. Und wie Paul darauf gelacht und erklärt hatte, dass es in der Tat der Ozean sei, den sie da hörte. Er hatte seine Arme um sie gelegt und geflüstert: »Es ist Flut, ist dir das nicht aufgefallen?«
Adrienne strich mit den Fingern zart über die anderen Dinge in der Schachtel und nahm das heraus, was sie für ihr Gespräch mit Amanda brauchte. Sie wünschte, sie hätte noch mehr Zeit, sich den Rest genauer anzuschauen. Vielleicht später, dachte sie. Sie verstaute die Sachen in der untersten Schublade, weil sie wusste, dass Amanda sie nicht zu sehen brauchte. Dann nahm sie die Schachtel, stand vom Bett auf und strich sich den Rock glatt.
Gleich musste ihre Tochter kommen.
ZWEI
Adrienne hörte von der Küche aus, wie die Haustür auf und zuging und wie Amanda das Wohnzimmer durchquerte.
»Mom?«
Adrienne stellte die Schachtel auf den Küchentisch. »Ich bin hier!«, rief sie.
Als Amanda durch die angelehnte Tür in die Küche trat, sah sie ihre Mutter am Tisch sitzen, vor sich eine geschlossene Flasche Wein.
»Was ist denn los?«, fragte Amanda.
Adrienne lächelte und stellte wieder einmal fest, wie hübsch ihre Tochter doch war. Mit ihrem hellbraunen Haar und den haselnussbraunen Augen, die ihre hohen Wangenknochen betonten, war sie schon immer hübsch anzusehen gewesen. Obwohl sie zweieinhalb Zentimeter kleiner war als Adrienne, hatte sie die Körperhaltung einer Tänzerin und wirkte größer. Außerdem war sie dünn – ein wenig zu dünn, fand Adrienne, aber sie hatte gelernt, darüber keine Bemerkungen zu machen.
»Ich möchte mit dir sprechen«, sagte Adrienne.
»Worüber?«
Statt zu antworten, wies Adrienne auf einen Stuhl.
»Setz dich doch.«
Amanda ließ sich am Tisch nieder. Aus der Nähe sah sie angespannt aus, und Adrienne ergriff ihre Hand. Sie drückte sie schweigend und gab sie dann langsam wieder frei, während ihr Blick zum Fenster wanderte. Einen Moment lang war es ganz still in der Küche.
»Mom?«, fragte Amanda schließlich. »Geht es dir gut?« Adrienne schloss die Augen und nickte. »Mir geht es gut, ja.
Ich überlege nur, wie ich anfangen soll.«
Amanda wurde abweisend. »Hat es wieder mit mir zu tun? Wenn ja, dann…«
Adrienne unterbrach sie mit einem Kopfschütteln. »Nein, es hat mit mir zu tun«, sagte sie. »Ich will dir etwas erzählen, das sich vor vierzehn Jahren zugetragen hat.«
Amanda legte den Kopf zur Seite, und in der vertrauten kleinen Küche begann Adrienne ihre Geschichte.
DREI
Rodanthe 1988
Paul Flanner kam aus dem Büro seines Anwalts. Der Morgenhimmel war grau. Flanner zog den Reißverschluss an seiner Jacke zu, ging zu seinem Leihwagen, einem Toyota Camry, setzte sich hinter das Steuerrad und hielt sich vor Augen, dass das Leben, das er ein Vierteljahrhundert lang geführt hatte, mit seiner Unterschrift unter den Verkaufsvertrag zu Ende gegangen war.
Es war Anfang Januar 1988, und im vergangenen Monat hatte er seine beiden Autos, seine Arztpraxis und jetzt auch, in einer letzten Zusammenkunft mit seinem Anwalt, sein Haus verkauft.
Er hatte nicht vorhersehen können, wie er sich bei dem Verkauf seines Hauses fühlen würde, aber als er den Zündschlüssel drehte, stellte er mit Erstaunen fest, dass er nichts Besonderes empfand, außer einer vagen Befriedigung angesichts der Endgültigkeit des Ganzen. Am Morgen war er ein letztes Mal durch das Haus gegangen und hatte gehofft, sich an Begebenheiten aus seinem Leben zu erinnern. Er hatte gedacht, er würde den Weihnachtsbaum noch einmal vor sich sehen und das Bild von seinem Sohn, der im Schlafanzug nach unten gestapft kam und die von Santa Claus gebrachten Geschenke bestaunte. Er versuchte sich der Essensgerüche an Thanksgiving oder an so manchem regnerischen Sonntag zu entsinnen, wenn Martha einen kräftigen Eintopf gekocht hatte, oder der Geräusche, die aus dem Wohnzimmer drangen, wenn er und seine Frau Gäste bewirteten – was oft geschah.
Aber als er so von Zimmer zu Zimmer ging, hier und da einen Moment verweilte und seine Augen schloss, wurden keine Erinnerungen in ihm wach. Das Haus, so wurde ihm bewusst, war nichts weiter
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