Das Lächeln der toten Augen
Trevisan.
»Die drei ›L‹: Liebeskummer, Leistungsdruck, Lebenswandel. Irgendetwas in der Art!«
»Der Brief ist eine Anklage gegen den Vater und eine Entschuldigung an die Mutter. Ansonsten wissen wir gar nichts.«
Dietmar Petermann legte den Brief beiseite. »Wir wissen damit aber sicher, dass er es selbst getan hat. Den wahren Hintergrund werden wir wohl nie erfahren. Aber es ist augenfällig. Und meist sind es doch die Väter, die von ihren Kindern zu viel verlangen. Sie formen und erziehen wollen. Die Mütter sind gut für die Streicheleinheiten, oder?«
Trevisan wurde wütend. Er sah das Gesicht von Paula vor sich. Es war ihm, als stünde er seiner Tochter wegen bei Dietmar auf dem Prüfstand. Und ausgerechnet Dietmar Petermann musste so etwas von sich geben. Ein Mann, der immer nur den geraden Weg einschlug. Für den es nur Schwarz oder Weiß gab.
Trevisan erinnerte sich noch gut an das Familiengrillfest Anfang Mai in der Polizeiinspektion. Dietmars Junge hatte die ganze Zeit über still und brav am Tisch gesessen, während die anderen Kinder umhertollten und spielten. Erst gegen Abend hatte er verstohlen seinen Platz verlassen, um sich den anderen anzuschließen. Doch Dietmars kurzer, aber lauter Pfiff hatte ihn zurückbeordert, und der Junge war ihm gefolgt, wie ein gut erzogenes Hündchen.
»Was ist los mit dir?«
Dietmars Frage riss Trevisan aus seinen Gedanken. Er schob seine Wut beiseite. Er wusste, dass es sinnlos war, mit seinem Kollegen über solche Standpunkte zu diskutieren. Wo doch Dietmar gerne den Hobbypsychologen herauskehrte, der alleine die allgemeingültigen Wahrheiten und Charakteristiken der menschlichen Seele zu kennen glaubte.
»Hast du die Geldbörse und den Abschiedsbrief eingepackt?«
»Ja, eigentlich können wir gehen.«
»Du hast es verdammt eilig«, antwortete Trevisan.
»Ich hab dir doch erklärt, dass ich morgen früh ein Konzert habe. Bis der Bericht geschrieben ist, dauert es auch noch eine Weile.«
»Was genau willst du schreiben?«
»Was … wie … die Sache ist doch klar! Ein eindeutiger Selbstmord«, entgegnete Petermann erstaunt.
Typisch Dietmar, dachte Trevisan. Der tote Junge war nichts weiter als ein Aktenzeichen, das so schnell wie möglich vom Tisch sollte. Trevisan musste sich zwingen, seinen Gedanken nicht laut auszusprechen. »Ich übernehme die Sache, du kannst nach Hause gehen, wenn wir hier fertig sind«, sagte er stattdessen.
»Das ist schön, da habe ich ja noch Zeit, ein klein wenig zu üben«, erwiderte Dietmar erfreut.
Ruhwedder kam ins Zimmer. »Der Bestatter ist so weit. Wohin soll der Tote gebracht werden?«
»Direkt in die Rechtsmedizin«, entschied Trevisan.
Als Trevisan die Siegelmarke an die Haustür klebte, hatte er ein ungutes Gefühl. Er wusste nicht, warum, er wusste nicht, was ihn störte. Vielleicht war es auch der Umstand, dass ihm noch ein schwerer Gang bevorstand, denn Sven Halbermanns Eltern waren noch nicht vom Tod ihres einzigen Kindes unterrichtet.
*
»Ich mach mir echt Sorgen um ihn, er war in der letzten Zeit so still. Ich glaube, die Sache hat ihn ganz schön mitgenommen«, sagte Mike Landers nachdenklich.
Sie saßen auf einer alten, zerschlissenen Couch in einem der verlassenen Lagerschuppen am Banter Hafen. Vor zwei Jahren, nach der großen Pleite der DePa-Handelsgesellschaft, hatten sie sich den leeren Schuppen als Clubhaus eingerichtet. Das ehemalige Verwaltungsbüro hatten sie mit Teppichen ausgelegt und mit Möbeln vom Sperrmüll ausstaffiert. Dennoch wirkte das Zimmer gemütlich. Lediglich die Stereoanlage war neueren Datums. Sven hatte sie gestiftet. Aus unerfindlichen Gründen gab es noch immer Strom in diesem Schuppen.
Seit einem Jahr trafen sich die vier Jungs und das Mädchen regelmäßig hier. Sie kannten sich von Kindesbeinen an und waren alle im gleichen Alter. Nur Tommy war bereits achtzehn und besaß schon einen Führerschein.
»Wann hast du Sven das letzte Mal gesehen?«, fragte Tommy. Er und Luisa blickten Mike fragend an. Mike Landers war Svens bester Freund. Sie hatten schon zusammen im Sandkasten gespielt.
»Letzten Donnerstag, aber er wollte nicht mit mir reden«, antwortete Mike.
»Glaubt ihr, er hat sich echt in die verliebt?«, warf Jochen Eickelmann ein.
Tommy rümpfte die Nase. »Also mein Geschmack war sie nicht, und Sven wird schon ’ne andere finden«, witzelte er.
»Du bist doof«, erwiderte Luisa erbost. »Ich möchte wissen, wie du reagierst, wenn dir dein Vater
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