Das Lächeln der toten Augen
studierte.
Nach dem Essen hatten sie sich in die Kajüte zurückgezogen. Für einen Landgang war auch noch morgen Zeit. Wenig später schlummerten beide friedlich in ihren Kojen.
Sie kamen im Morgengrauen. Lautlos schlichen sie sich an Bord. Im fahlen Schein der wenigen Laternen, die den Hafen nur spärlich erhellten, wirkten sie wie dunkle Schatten ohne Gesichter. Sie hatten das Boot nach dem Einlaufen in das Hafenbecken nicht mehr aus den Augen gelassen und auf ihre Gelegenheit gelauert. Niemand bemerkte sie.
Zielstrebig gingen sie zum Niedergang. Sie redeten nicht, sie brauchten keine Absprache. Unter ihnen herrschte blindes Verständnis.
Das Schloss der Kajütentür war kein Hindernis. Nach wenigen Sekunden knackte die Verriegelung. Es war das einzige Geräusch, das von Bord des Bootes hinaus in den Frühnebel drang.
Vorsichtig schlichen sie sich ins Innere. Das Schnarchen des Skippers drang an ihre Ohren, darunter mischte sich das gleichmäßige Atmen seiner Frau.
Auf diese Gelegenheit hatten sie wochenlang gewartet. Endlose Stunden hatten sie damit zugebracht, ihn zu studieren. Seine Gewohnheiten, seine Vorlieben, sie wussten, wie er seine Tage verbrachte. Offenbar kannte der Mann nur noch ein Ziel. Er war herumgefahren und hatte Fragen gestellt. Viele Fragen und vor allem: die falschen Fragen. Sie hatten gespürt, dass er ihnen sehr nahe gekommen war. Zuerst hatten sie geplant, ihn in seinem Haus aus dem Weg zu schaffen. Doch das hätte Spuren hinterlassen. Dann hatten sie von dem Segeltörn erfahren. Das war die Gelegenheit.
Seine Yacht und das Meer bedeuteten ihm viel. Es war ein schönes Boot, eine weiße Schärenyacht mit geringem Tiefgang. Hochseetauglich. Sie hatten sich gefragt, wie er sich dieses Hobby bei seiner schmalen Pension leisten konnte. Doch es war offenbar neben den Rosen im Garten seines Häuschens in Hörne die einzige Liebhaberei geblieben, die er hatte.
Der Skipper war ein erfahrener und leidenschaftlicher Segler. Offenbar teilte seine Frau diese Begeisterung, obwohl sie gar nicht von der Küste stammte. Sie war vor vier Jahren aus der Hauptstadt in den Norden Jütlands gekommen, um an der Skøpping-Skole die Erstklässler zu unterrichten. Eigene Kinder gab es keine. Er hätte in aller Seelenruhe den Rest seines Lebens genießen können. Doch er tat es nicht, er hatte weiter geforscht. Etwas trieb ihn voran. Die Frage nach dem Warum. Was hoffte er dabei zu gewinnen? Der letzte Fall war abgeschlossen, es gab keine Veranlassung mehr, daran zu rühren. Niemand würde seine Fragen beantworten können. Er hätte einfach nur den Toten ihre Ruhe gönnen sollen. Er hatte seine Frau, die Yacht und die Rosen, es gab viele, die weniger besaßen als er. Doch es hatte ihm nicht gereicht.
Nun gab es kein Zurück mehr. Nun würde er seinen inneren Frieden finden. Jetzt würde sich der Kreis schließen. Der Drachenkopf hatte nach dem Schwert gerufen und alle hatten zugestimmt.
Schon waren sie über ihm. Nur ein leises Ächzen kam über seine Lippen, das in einem tiefen Schweigen verklang. Der Atem der Frau ging gleichmäßig. Sie hatte nicht bemerkt, dass sein Schnarchen verstummt war.
Es war kurz nach fünf Uhr, als der schlanke Körper einer Schärenyacht aus dem Hafen von Langeoog bei ansteigender Flut ins offene Meer glitt. Die dänische Flagge hing leblos vom Großmast herab. Nur die Augen eines einsamen Fischers folgten dem Boot, wie es in die Gewässer des Dollarts schipperte. Der Fischer wunderte sich noch, hatte doch der Wetterdienst für den heutigen Vormittag Sturmwarnung ausgegeben. Aber der Skipper würde schon wissen, was er tat. Vielleicht wollte er auch nur auf eine der benachbarten Inseln.
Der Fischer widmete sich längst wieder seinen Netzen, als der Horizont die weiße Yacht endgültig verschlang.
*
Der weißhaarige alte Mann blickte nachdenklich hinaus auf das Meer. Der Wind peitschte das Wasser auf und die tosenden Wellen brandeten gegen die steinerne Klippe. Seine langen, weißen Haare schwangen im Rhythmus der aufbrausenden Böen, doch das Wetter schien ihm nichts auszumachen. Er trotzte dem Sturm.
»Wir haben getan, was getan werden musste. Uns bleibt nichts, als abzuwarten und uns in Geduld zu üben«, schrie sein dunkel gekleideter Begleiter gegen die aufbrausende Naturgewalt an. Der Mann mochte wohl mehr als zwanzig Jahre jünger sein. Er war nervös und unruhig.
»Die Zeit ist gegen uns. Vergiss nicht, dass sich der Stein seinen Lauf durch unser
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