Das Lächeln der toten Augen
Innerstes bahnt. Es ist, als ob dir eine feurige Hand mitten in deine Eingeweide greift. Ich spüre die Macht der Veränderung. Furchtbares wird geschehen. Die Feinde sind noch immer mächtig. Sie belauern uns. Wir werden dem Bösen entgegentreten, mit aller Macht. Die Toten blicken auf uns herab. Ich sehe ihre Augen. Jede Nacht sehe ich sie. Und ihre Tränen sind rot wie Blut.«
Der Alte sprach die Worte leise und mit tiefer Stimme, und trotz des Heulens des Windes klangen sie klar und verständlich.
Wangerland, Juli 2001
1
Die Frau schaltete den Staubsauger ab und horchte auf. Die laute Musik aus dem Nachbarhaus war verklungen, doch nun war ein anderes Geräusch an die Stelle der Musik getreten. Ein dumpfes Klopfen, fast so, als würde jemand mit vollen Kräften auf eine Pauke schlagen. Immer und immer kehrte es wieder. Es wirkte mechanisch und bedrohlich.
Ängstlich und zugleich ein wenig neugierig schlich sie an das Küchenfenster und blickte hinaus. Doch niemand war zu sehen. Noch immer stand das Moped vor dem Nachbarhaus. Vielleicht war dort ein Handwerker zugange. Schließlich dauerte es nicht mehr lange, bis die ersten Sommerfrischler den Badestrand jenseits der Deichstraße bevölkern würden. Sie wandte sich um und ging zurück in den Flur. Erneut betätigte sie den Schalter des Staubsaugers und das brausende Tosen des Gerätes überlagerte das hämmernde Pochen. Sie musste sich beeilen. Am Sonntag würden die ersten Feriengäste anreisen und dann musste das Haus gereinigt sein. Drei gute Monate im Sommer blieben ihr, damit sich das Ferienhaus rentierte. Niemand würde sich im Frühjahr oder Herbst oder gar im Winter für ihr Haus am Hohenstiefer Siel interessieren. Deshalb war sie bedacht darauf, dass sich die Feriengäste bei ihr wohlfühlten, im nächsten Jahr wiederkamen oder sie zumindest weiterempfahlen. Und Sauberkeit gehörte zu ihrem Geschäft.
Die beiden Wohnungen waren bereits gereinigt, die Betten mit frischer Wäsche überzogen und das Besteck in den beiden Küchen ergänzt. Nur noch der Flur und das Treppenhaus waren zu säubern. Eifrig ging sie ans Werk, dennoch lauschte sie ab und an, und noch immer war dumpf das Klopfen zu hören.
»Das geht nicht mit rechten Dingen zu«, sagte sie, als sie erneut den Staubsauger abschaltete und das Saugrohr beiseite legte.
Sie wusste, dass das Nachbarhaus einem reichen Industriellen aus Wilhelmshaven gehörte, der nur ab und zu ein paar Wochen in Horumersiel verbrachte. Die meiste Zeit über stand das Haus leer. Doch in den letzten Wochen, so hatte sie von einer Nachbarin erfahren, hätte sich der Sohn des reichen Mannes dort herumtrieben und mit seinen Freunden ausgelassene Partys gefeiert und laute Musik gehört.
Erneut schlich sie zum Küchenfenster. Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass inzwischen mehr als zehn Minuten vergangen waren. Niemand würde mehr als zehn Minuten mit dieser Gleichmäßigkeit hämmern. Etwas stimmte nicht.
Sie fasste sich ein Herz und ging zur Tür. Draußen war keine Menschenseele zu sehen. Noch hielt die kleine Feriensiedlung ihren Dornröschenschlaf.
Sie ging auf den Eingang des Nachbarhauses zu. Das Hämmern wurde lauter. Sie blickte auf und bemerkte das offene Fenster an der Westseite unterhalb des Daches. Wenn sich ihr Gehör nicht irrte, kam das Hämmern genau aus diesem Zimmer.
Sie klingelte. Die Sekunden verstrichen. Sie klingelte erneut, doch nichts geschah. Schließlich legte sie ihre Hand auf den Klingelknopf. Bestimmt eine Minute lang war das Schnarren der Türklingel zu hören. Sie fühlte sich nicht ganz wohl in ihrer Haut. Aber schließlich machte sie sich Sorgen und wollte nur nach dem Rechten sehen.
Ihre Hoffnung war vergebens. Niemand öffnete ihr. Kein Geräusch deutete darauf hin, dass jemand durch das Treppenhaus lief. Nur das laute, gleichförmige und nervenaufreibende Hämmern schien nicht enden zu wollen.
Sie umrundete das Haus und rief laut »Hallo!« in Richtung des Fensters. Aber wiederum blieben ihre Bemühungen ohne Erfolg. Dabei wusste sie genau, dass jemand im Haus sein musste. Als sie vor knapp zwei Stunden aus ihrem Wagen gestiegen war, hatte sie doch die laute Musik aus dem Haus gehört.
Sie ging den kleinen Fußweg entlang, der in den Garten führte. Vor der Terrassentür blieb sie stehen. Die Tür stand weit offen und der Vorhang flatterte im Wind.
Erneut rief sie laut: »Hallo, ist da wer?«
Niemand antwortete. Schließlich fasste sie sich ein Herz und betrat das Wohnzimmer
Weitere Kostenlose Bücher