Das Lächeln der Toten • Ein Merrily-Watkins-Mystery
singen die Straßen da oben. Vor allem in der tiefsten Nacht, wenn sie allein dort ist. Sie singen, sie singt …»
«Also, bitte –»
«Na gut, Sie verstehen es nicht, Sie spüren diese Intensität nicht.»
«Ja, tut mir leid.» Susannah warf die Arme in die Luft. «Tut mir sehr leid, dass ich kein so versponnener Künstlertyp bin, sondern nur eine einfache Anwältin. Wir schmieren nur die Rädchen, die die Welt am Laufen halten, und wir haben leider keine Zeit für so etwas. Im Gegensatz zu Dichtern. Und Pfarrern offensichtlich.»
«Ich sage ja nicht, dass ich es genauso intensiv spüre, oder auch nur annähernd.»
«Sie läuft nachts in unkonventioneller Kleidung herum, und manchmal singt sie. Na und?»
«Sie verleibt sich der Stadt ein. Mir ist klar, dass das in Ihren Augen alles Unsinn ist, aber für Bell bedeutet es alles, und sie weiß nicht, wie viel Zeit sie noch hat, und wenn diese Zeit vorbei ist, möchte sie …»
«… ein Geist sein?»
«Sie möchte
hier
Geist sein. Katharina von Aragon, Prinz Arthur, Marion de la Bruyère … Belladonna.»
Susannah schnaubte und wandte sich ab.
«Haben Sie die Zeitung heute Morgen mitgebracht?», fragte Merrily. «Ich meine, haben Sie ihr das gezeigt?»
«Die ganze Stadt spricht davon. Früher oder später hätte es ihr jemand erzählt.»
«Und was genau hat sie gesagt?»
Susannah drehte sich um. «Sie war … bestürzt. Sie hat gesagt, Sie seien im Haus, oben. Dass sie Sie in ihr Haus eingeladen hat und Sie sie verraten haben. Ich habe ihr gesagt, sie soll das mir überlassen. Ich wollte nicht, dass sie Sie anschreit. Ich habe gesagt, ich sehe zu, dass Sie verschwinden und dass Sie sie nie wieder belästigen.»
«Und wie wollten Sie das machen? Durch eine einstweilige Verfügung?»
«Ich hätte schon dafür gesorgt. Ich hätte mich an eine höhere Instanz gewandt.»
Merrily legte ihren Kopf schief. «An Gott?»
«Stellen Sie sich nicht dumm. Nachdem ich neulich morgens mit Ihnen gesprochen hatte, war ich überhaupt nicht begeistert, als Sie überhaupt nicht darauf reagiert haben.»
«Völlig richtig.»
«Also habe ich mit ein paar andern Leuten von der Kirche gesprochen, und mir ist Ihre Vorgesetzte empfohlen worden, die … Koordinatorin des Beirats für spirituelle Grenzfragen?»
«Wer?»
«Kanonikerin Clarke? Ich hab es mir im Büro aufgeschrieben.»
Merrily hatte ein Gefühl, als würde der Raum beben.
«Sie hat gesagt, Sie wären inzwischen von Ihrer offiziellen Position so gut wie zurückgetreten», sagte Susannah, «aufgrund persönlicher Probleme. Sie sagte, Sie wären überlastet. Sie sagte, wenn ich noch mehr Ärger haben sollte, solle ich mich direkt an sie wenden.»
«Verstehe.»
«Sie hat gesagt, wir könnten das unter uns ausmachen. Mir war nicht klar, dass sie Rechtsanwältin ist.»
«Das muss ja sehr tröstlich für Sie gewesen sein.»
«Wenn Sie es genau wissen wollen», sagte Susannah, «ich hatte das Gefühl, dass es Spannungen zwischen Ihnen beiden gibt, deshalb wollte ich selbst mit Ihnen reden. Und jetzt wünschte ich, ich hätte es nicht getan.»
«Okay …» Merrily atmete tief ein. «Eins möchte ich gern noch wissen. Hat Bell tatsächlich das Wort ‹verraten› gebraucht? Im Zusammenhang mit mir?»
«Sie hat gesagt, Sie hätten sich ihr Vertrauen erschlichen, um in ihre Festung einzudringen, und sie auf schlimmstmögliche Weise verraten. Sie … war ziemlich außer sich. Ich war froh, als sie aus dem Haus war.»
«Wie lange ist das her?»
«Eine Stunde? Anderthalb?»
«Und haben Sie irgendeine Ahnung, wo sie hingegangen sein könnte?»
Susannah schüttelte den Kopf. «Sie hat ihren langen Mantel angezogen und ist gegangen, und ein oder zwei Minuten später hat sie … also … geschrien. Nur einmal.»
«Aber Sie haben dem keine Beachtung geschenkt.»
«Ich bin ans Fenster gegangen. Es war nichts von ihr zu sehen.»
«Also, ich glaube, ich muss sie suchen gehen», sagte Merrily.
«Geben Sie nie auf?»
«Nein. Hören Sie … sagen Sie mir, wenn ich mich täusche. Robbies Tod – wie es dazu kam und wo es dazu kam – hat Bell etwas geraubt, was sie nie wiederbekommen wird. Und jetzt glaubt sie, wir wollen ihr noch mehr wegnehmen. Oder?»
«Ich kann das alles einfach nicht glauben. Es ist so irrational – selbst für ihre Verhältnisse.»
«Es ist sogar rational – für ihre Verhältnisse. Und jetzt glaubt sie, die Stadt hätte sich gegen sie gewendet. Hat sie Ihnen erzählt, dass sie
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