Das Lächeln meiner Mutter
ihre Träume, nur die vor ihr liegende Zeit, über die sie nach eigenem Wunsch verfügen konnte, eine kontemplative Zeit, die ihr Schutz bieten würde.
Wie ihre älteren Geschwister ging auch Lucile weiterhin auf das Gymnasium in Paris. Doch im Sommer wurde sie wegen ihres häufigen Fehlens vom Unterricht ausgeschlossen. Im folgenden Schuljahr wechselte sie auf eine katholische Schule in Versailles, Blanche-de-Castille, wo sie auch nicht besser mitarbeitete und, außer in Französisch, erbärmliche Noten bekam. Mit ihrem unerschütterlichen Schweigen störte Lucile, es zeigte klar, wie sehr sie sich langweilte. In ihrem Blick lag eine Art Frechheit, die die meisten ihrer Lehrer nicht ertragen konnten. Ganz zu schweigen von den Zettelchen, die sie mit ihren Freundinnen austauschte, um sich über die alberne Kleidung ihrer Lehrerinnen lächerlich zu machen oder anzudeuten, Schwester X habe vielleicht ein Liebesverhältnis mit Schwester Y. Liane und Georges erhielten eine erste Verwarnung. Dieses Mal sprach Georges sehr deutliche Worte zu Lucile. Es sei das letzte Mal. Liane sei es leid, sie immer in den Schulen verteidigen zu müssen, und habe genug mit ihren anderen Kindern zu tun. Sollte Blanche-de-Castille Lucile vom Unterricht ausschließen, müsse sie zu Pigier gehen. Dann würde sie Sekretärin, ja, genau, eine einfache Tippse, und würde es ihr ganzes Leben lang bleiben. So wie Georges es darstellte, wahrlich kein beneidenswertes Los. Doch Lucile hatte Gilberte Pasquier, die anmutige, hoheitsvolle Gilberte Pasquier, noch deutlich vor Augen.
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L ucile lag auf dem Bett, den Kopf in die Hand gestützt, den Körper an den Bettrand gerückt, möglichst nah zur Lampe hin, die einen klar umrissenen gelben Lichtkreis auf das Buch warf, das sie schon seit mehreren Stunden las, ohne Zeitbewusstsein und unbekümmert um die Rufe aus dem Treppenhaus.
Plötzlich wurde die Stimme ihrer Mutter schriller.
»Lucile, die Gäste sind da!«
Lucile zuckte zusammen und ließ das Buch fallen. Sie schlüpfte in die Schuhe, strich sich mit den Händen über das Haar, ohne sich die Mühe zu machen, in den Spiegel zu sehen, zog die Bluse glatt und ging hinunter ins Wohnzimmer. Ihr Bruder und ihre Schwester waren bereits da, liebenswürdig und höflich. Lisbeth hatte ein wenig Lippenstift aufgelegt und trug ein perfekt sitzendes tailliertes Kleid, das sie selbst genäht hatte. Barthélémy, die Hände tief in den Hosentaschen, versuchte, Haltung zu bewahren. Lucile trat weiter in den Raum, und Georges stellte seine zweitälteste Tochter vor. Sie setzte sich neben ihn und hielt sich bewusst gerade, während sich ihr alle Blicke zuwandten. Sie wurde gefragt, in welche Klasse sie gehe, welchen Beruf sie später ergreifen wolle und wofür sie sich interessiere. In einem Ton, dem jede Arroganz fehlte, erwiderte Lucile, sie habe nicht die geringste Ahnung. Man drang weiter in sie: Sie habe doch sicher neben der Schule noch Hobbys. Lucile antwortete nicht sofort, und einer der Gäste bemerkte im Bühnenflüsterton: Jedenfalls werde sie keine Probleme haben, einen Mann zu finden! Lucile ging nicht darauf ein, Georges ebenso wenig, dennoch neckte er sie mit dem Zustand ihres Zimmers und beschrieb detailreich die Haufen schmutziger Wäsche auf dem Boden, die Stapel nutzloser Papiere und unauffindbarer Schulhefte. Ganz zu schweigen von den Bereichen, die niemandem zugänglich seien und wo man, sollte man heldenmütig genug sein nachzuschauen, vermutlich zahlreiche Bonbonpapiere und ein oder zwei Frauenromane finden würde. Wenn sie einen Mann finden wolle, müsse sie erst einmal lernen, ein wenig Ordnung zu halten. Dann erging sich Georges in einer Tirade über eins seiner Lieblingsthemen, die tiefsitzende Trägheit und die Neigung zur Faulheit der Jugendlichen seiner Zeit. Nachdem er die Zuhörer einmal in seinen Bann geschlagen hatte, teilte er ihnen auch gleich sein Urteil über die Unfähigkeit der modernen Lehrer mit, die sich weder durchsetzen noch das Interesse ihrer Schüler wecken könnten. Ferner seien diese Lehrer unfähig, einen mehr als drei Wörter langen Satz in anständigem Französisch zu formulieren. Dann schloss sich eine Schmährede gegen die Entwicklung des französischen Unterrichtswesens an, die umso brillanter war, als er sie, mit auf die jeweiligen Zuhörer zugeschnittenen kleinen Anpassungen und Varianten, schon häufig gehalten hatte. Einer der Gäste, der aus Schweden angereist war, um Kühlgeräte zu
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