Das Lächeln meiner Mutter
wenn es ein Junge wird. Ganz offensichtlich hat Lucile keine Vorstellung von dem Leben, das vor ihr liegt, und nichts von alledem scheint real.
Der Super- 8 -Film von der Heirat meiner Eltern, bei der Lucile schon seit einigen Monaten schwanger ist, strahlt eine Traurigkeit aus, die ich nicht in Worte zu fassen vermag. Meine Mutter trägt ein weißes Trägerkleid, das unter der Brust leicht zusammengerafft ist, ihr Gesicht wird von einem Tüllschleier umrahmt. Gabriel trägt einen dunklen Anzug. Sie sind schön, sie wirken verliebt, und doch scheint etwas in Luciles Blick wie verdünnt, eine Art Abwesenheit (oder Verletzlichkeit) trennt sie von ihrer Umgebung.
Eine durch und durch traditionelle bürgerliche Hochzeit, das Bankett nach der kirchlichen Trauung findet in den Salons eines herrschaftlichen Hauses in Versailles statt. Alle sind schick und gut gekleidet, Liane genießt strahlend ihre Rolle der Brautmutter, Justine und Violette (damals dreizehn beziehungsweise elf) erfüllen mit der Unterstützung einiger Kusinen gewissenhaft ihre Brautjungferpflichten. Luciles Leben außerhalb ihrer Familie beginnt gerade erst, sie hat bei Pigier eine Sekretärinnenausbildung genossen, sie erwartet ein Kind, und ihr Mann arbeitet in der von Georges geleiteten Werbeagentur.
Scheinbar fehlt ihnen nichts zu ihrem Glück.
Ich habe den Dokumentarfilm noch nicht erwähnt, der 1968 , also zwei Jahre nach Luciles Hochzeit, über meine Familie gedreht wurde und im Februar 1969 im ersten ORTF -Programm ausgestrahlt wurde. Ich wusste von seiner Existenz – Gegenstand einer, wenngleich nicht mehr auffindbaren Fernsehreportage gewesen zu sein gehört genauso zur Familienmythologie wie der spektakuläre Spagat, den meine Großmutter mit siebzig Jahren in einem glänzenden Trikot vorführte, oder das selbstgebaute Schwimmbecken in Pierremont. Doch hatte noch niemand dieser Sendung habhaft werden können, deren genauer Titel nicht mehr bekannt war und die im öffentlichen Rundfunk- und Fernseharchiv INA nicht zur Verfügung stand. Dank der Hilfe von mehreren Seiten konnte ich sie finden und eine DVD davon brennen. Die Sendereihe heißt
Forum
und beschäftigt sich in dieser Sendung mit dem Verhältnis zwischen Jugendlichen und Eltern. Alles daran erscheint außerordentlich veraltet: die etwas verblassten Schwarzweißbilder, die Kleidung der Personen, die Intonationen, die Brillengestelle, das Tempo und die Kulissen. An die ersten Reportagen, die direkt in den betreffenden Familien gedreht wurden, schließen sich Diskussionen an, in denen Eltern, Jugendliche, Psychologen und Psychoanalytiker, die mit den dargestellten Familien nicht in Kontakt stehen, kommentieren, was sie gerade gesehen haben, und ihre Meinung über die jeweiligen Erziehungsmethoden und Eltern-Kind-Beziehungen äußern.
Die bei meinen Großeltern gedrehte Reportage schließt die Sendung ab. Die Stimme aus dem Off erklärt, die in dieser Familie praktizierte Erziehung werde nicht als beispielhaft im eigentlichen Sinne gezeigt, »denn für Erziehung kann es keine Rezepte geben«. Doch anscheinend hofft man, dieses Modell könne – obwohl es am Ende der Sendung steht und daher nicht kommentiert wird – Stoff zum Nachdenken und für weitere Erörterungen bieten.
Die Reportage beginnt auf dem ersten Treppenabsatz im Haus in Versailles. Milo taucht auf, er geht ans Telefon und ruft dann laut nach Lisbeth. Lisbeth eilt herbei, um nach dem Hörer zu greifen, was sie sagt, wird jedoch sofort vom Kommentar überdeckt. In dem damals üblichen etwas affektierten Reportage-Ton werden eines nach dem anderen sämtliche Familienmitglieder vorgestellt, die dann auch im Bild erscheinen: »Lisbeth, vierundzwanzig Jahre alt. Barthélémy, dreiundzwanzig, verheiratet mit Coline, sie haben ein sechs Monate altes Baby. Lucile, einundzwanzig, verheiratet mit Gabriel, ihre kleine Tochter ist zwei. Milo, achtzehn, Primaner. Justine, sechzehn, Schülerin am Lycée Estienne, Violette, vierzehn, ebenfalls Gymnasiastin. (Eine kleine Pause.) Der Vater, Georges, hat eine eigene Werbeagentur gegründet. Die Mutter, Liane, hat neun Kinder aufgezogen, ohne ihre gute Laune zu verlieren.« Dann sieht man die Poiriers, einschließlich der Eingeheirateten, um den großen Tisch im Esszimmer versammelt. Das Gespräch ist lebhaft, alle lachen. Dann hört man wieder die Stimme aus dem Off: »Um die Familie vollständig vorzustellen, sind noch der sechsjährige Tom zu erwähnen, der im Bett
Weitere Kostenlose Bücher