Das Lächeln meiner Mutter
sich verändert: Die Tellersammlung hängt an der Wand, die Weidenkörbe stehen an beiden Enden des Tischs, in der Luft liegt ein Duft nach Lammkeule. Liane sitzt mir gegenüber. Ein Familienessen, wie wir es bis Ende der Neunzigerjahre, als Georges noch lebte, oft hatten. Die Stimmung ist ein wenig gespannt, Georges zieht seine Show ab, setzt ein paar Wahrheiten über die Heutigen-Zeiten und die Das-waren-noch-Zeiten ab, während Liane ringsum stumm dazu ermuntert, zuzulangen, solange es noch warm ist. Wenn ich es recht bedenke, sehe ich Lucile nicht, ich bin nicht sicher, dass sie im Traum vorkommt, nein, sie ist nicht da, aber es wird auch nicht auf ihre Abwesenheit hingewiesen. Dann gibt es durch einen dieser Zufälle, die es wollen, dass in mehreren Gesprächen gleichzeitig eine Pause eintritt, einen Moment der Stille. Lianes Lächeln erlischt, sie sieht mich an und sagt mir mit diesem Schleier der Trauer oder Verzweiflung, der sich manchmal über ihren Blick legte, aber ohne jede Feindseligkeit:
»Das ist nicht nett, was Sie da tun, meine geliebte Königin, das ist nicht nett.«
Schweißgebadet schrecke ich aus dem Schlaf. Neben mir schläft der Mann, den ich liebe und dem ich diesen Traum einige Stunden später erzählen werde, ohne ihm jedoch meinen Schrecken darin deutlich machen zu können. Alles rings um uns ist ruhig. Es dauert einige Minuten, bis sich mein Puls beruhigt.
Ich schlafe nicht wieder ein. Keine Minute lang. Ich weiß, worauf ich zugehe.
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Zweiter Teil
M eine Mutter und mein Vater haben fast sieben Jahre zusammengelebt, die meiste Zeit davon in einer Wohnung in der Rue Auguste-Lançon, in einem Teil des 13 . Arrondissements, den ich schlecht kenne. Ich bin nie wieder hingegangen. Als ich dieses Buch zu schreiben begann, wollte ich für diese sieben Jahre etwa zehn Seiten frei lassen, zwar mit fortlaufenden Seitenzahlen, aber ohne Text. Hinterher dachte ich, dieser Kunstgriff würde zwar die Auslassung deutlich zeigen, sie aber dadurch nicht unbedingt annehmbarer und schon gar nicht verständlicher machen.
In diesen Jahren arbeitete mein Vater für Georges’ Agentur, und nach der Auflösung der Agentur als Verwaltungsdirektor in einer Bank. Lucile war nicht berufstätig, sie kümmerte sich um ihre beiden Töchter, zunächst um mich und dann auch um meine Schwester Manon, die vier Jahre nach mir zur Welt kam. Von außen gesehen, bildeten Lucile und Gabriel das, was man ein schönes Paar nennt. Sie aßen bei Freunden, fuhren an den Wochenenden aufs Land zu den jeweiligen Eltern und gingen mit ihren Kindern im Parc Montsouris spazieren. Sie liebten sich, sie betrogen sich, scheinbar war alles sehr banal.
Ich kann über die Zeit, die Lucile mit meinem Vater verbrachte, nicht schreiben.
Das ist eine Ausgangsbedingung, ein striktes Gebot, ein ausgespartes, dem Schreiben entzogenes Kapitel. Das wusste ich noch bevor ich dieses Buch begonnen habe, und es ist einer der Gründe, die mich lange daran gehindert haben, mich an dieses Buch zu setzen.
Jene Jahre waren für Lucile eine Zeit großer Einsamkeit (das hat sie oft gesagt) und haben dazu beigetragen, sie zu zerstören (das schreibe ich). Die Begegnung zwischen Lucile und Gabriel bleibt für mich die Begegnung zweier großer Leidender, und anders als in der Mathematik, in der die Multiplikation zweier negativer Zahlen eine positive Zahl ergibt, sind aus dieser Begegnung Gewalt und Verzweiflung hervorgegangen.
Ich habe meinem Vater keine Fragen über Lucile gestellt, ich habe ihn lediglich um die Dokumente gebeten, die sich in seinem Besitz befanden (der Polizeibericht, der einige Jahre nach ihrer Trennung erstellt wurde, als Lucile zum ersten Mal in eine Anstalt eingewiesen wurde, und der sich daran anschließende Bericht des Sozialamts über die familiäre Situation, darauf werde ich noch zurückkommen). Er ließ mir diese Dokumente umstandslos und schon am nächsten Tag per Post zukommen. Da ich doch ein Buch über die Frau schreiben will, die mein Vater vielleicht am meisten geliebt – und gehasst – hat, wundert er sich, dass ich mich nicht auch auf seine Erinnerungen stützen, dass ich ihm nicht zuhören will. Doch mein Vater weiß nichts. Er hat seine eigene und damit auch Luciles Geschichte umgeschrieben, aus Gründen, die nur ihn etwas angehen und die zu kommentieren hier nicht angebracht ist.
Um wenigstens den Anschein von Kohärenz zu erwecken, habe ich keinen der Männer befragt, die Luciles Leben von
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