Das Lächeln meiner Mutter
entkommen versucht.
Wir sind mitten im Kern des Mythos. Der Film entspricht der Legende, an der Liane und Georges in dem Maße schreiben, wie sie sie erschaffen, wie wir es alle mit unserem Leben tun. Der Film zeigt sie als Paar und als Eltern, vermutlich spiegelt er ihr Selbstbild wider, das sie brauchen, um weitermachen zu können. So nehmen sie sich und so nehmen sie ihre Familie wahr. Ihre Kinder fangen an, sich von der Familie zu lösen, und sie haben den Eindruck, ihre Sache nicht allzu schlecht gemacht zu haben, vor allem was die Erziehung angeht, sie haben keine finanziellen Sorgen, fahren in die Ferien, geben Einladungen. Nach den mageren Zeiten in der Rue de Maubeuge spielen meine Großeltern, solange Georges’ Agentur gut läuft (sie wird den Mai 68 nicht überstehen), Großbürger. Zum ersten Mal kann Georges seiner Frau ein Leben bieten, das ihrem Herkunftsmilieu entspricht. Dennoch gibt es in ihrer Lebensweise immer irgendetwas Unkonventionelles. Ich glaube, das macht ihre Stärke aus, und das ist das Vorherrschende in meiner Erinnerung an sie.
Zum Beispiel liefen Liane und Georges, lange bevor es zu einem selbstbewusst demonstrierten Lebensstil wurde, nackt vor ihren Kindern herum. In dieser Hinsicht hatten sie beide ihr Schamgefühl abgelegt oder nie eins besessen. Auch ich habe sie wie alle ihre Enkelkinder bis fast an ihr Lebensende nackt gesehen. Georges zog sich in jedem Alter öffentlich die nasse Badehose aus und einen trockenen Slip an, und Liane gestattete mir lange, selbst in fortgeschrittenem Alter, dabei zu sein, wenn sie aus der Dusche kam: ein minutiöses Ritual – Abreibung mit dem Massagehandschuh, Salbung mit Nivea-Creme und das Anlegen von mindestens zehn Kleiderschichten –, das mich faszinierte.
Ich bin das Produkt dieses Mythos und habe in gewisser Weise die Aufgabe, ihn aufrechtzuerhalten und fortzusetzen, damit meine Familie weiterlebt und auch die etwas absurde, verzweifelte Phantasie, die uns eigen ist. Dennoch, als ich diese Reportage abspielte und sie alle sah, so schön, so begabt, so sehr voneinander verschieden und doch gleichermaßen charismatisch, dachte ich:
welche Vergeudung.
Was ist passiert, als Folge welcher Störung, welchen schleichenden Gifts? Ist der Tod der Jungen eine hinreichende Erklärung für die Bruchlinie, die Bruchlinien? Denn die Jahre danach sind nicht zu beschreiben ohne die Begriffe Tragödie, Alkohol, Irrsinn, Suizid, die genauso zu unserem Familienwörterbuch gehören wie die Wörter Fest, Spagat und Wasserski. Bei den Gesprächen, die ich führte, sprachen manche, sogar von den am meisten Betroffenen, von Unheil, und mir scheint, dieses Wort trifft es am besten, wenn man bedenkt, dass man auf jeder Ruine wiederaufbauen kann – was jeder von uns nach seiner Weise getan hat.
Habe ich das Recht zu schreiben, dass meine Mutter und ihre Geschwister alle zu diesem oder jenem Augenblick in ihrem Leben (oder ihr ganzes Leben lang) verletzt, beschädigt und aus dem Gleichgewicht geworfen wurden, dass sie alle zu diesem oder jenem Augenblick in ihrem Leben (oder ihr ganzes Leben lang) sehr an diesem Leben litten und dass sie ihre Kindheit, ihre Geschichte, ihre Eltern, ihre Familie wie ein Brandzeichen trugen?
Habe ich das Recht zu schreiben, dass Georges ein schädlicher, zerstörerischer und demütigender Vater war, dass er seine Kinder in den Himmel gehoben, ermutigt, beweihräuchert, vergöttert und zugleich vernichtet hat? Habe ich das Recht zu schreiben, dass seine Ansprüche an seine Söhne nur noch von seiner Intoleranz übertroffen wurden und dass er zu bestimmten Töchtern zumindest zweideutige Beziehungen hatte?
Habe ich das Recht zu schreiben, dass Liane nie etwas entgegenzusetzen wusste oder es nicht konnte, dass sie ihm ergeben war, wie sie Gott ergeben war, bis hin zur Aufopferung ihrer Angehörigen?
Ich weiß es nicht.
Meine Großmutter Liane sang mit ihrer sanften Stimme unendlich traurige Lieder. Liane siezte ihre Kinder und Enkelkinder mit einem geradezu religiösen und respektvollen
Sie,
das meine Freunde rührte. Sie nannte uns
mein kleiner König, meine geliebte Königin, mein Lieb, meine Liebste, meine Prinzessin.
Ich sagte
du
zu ihr und betete sie an.
Vor einigen Tagen hatte ich einen Traum, der mich nicht loslassen will.
Wir sind alle im Esszimmer in Pierremont versammelt und sitzen an dem riesigen Holztisch, der an Festtagen Platz für bis zu zwanzig Personen bot. Alle sind da, nichts hat
Weitere Kostenlose Bücher