Das Lächeln meiner Mutter
nah oder fern geteilt haben: weder Forrest, ihre erste platonische Liebe, noch Nébo, ihre große leidenschaftliche Liebe, obwohl beide zu ihrer Trauerfeier gekommen sind. So habe ich ein Argument, um meinen Vater davon zu überzeugen, dass er nicht etwa diskriminiert worden ist. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob er darauf hereinfällt.
Ich habe keinen der Männer befragt, die Luciles Leben geteilt haben, und bei näherer Betrachtung scheint mir, das ist auch gut so. Ich will nicht wissen, wie Lucile als Ehefrau oder Geliebte war. Es geht mich nichts an.
Ich beschreibe Lucile aus der Sicht des zu schnell groß gewordenen Kindes, ich schreibe über das Mysterium, das sie mir immer war, sie, die immer so präsent und zugleich so fern war und die mich nach meinem zehnten Geburtstag nie mehr in die Arme genommen hat.
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L ucile war sechsundzwanzig, als sie Gabriel verließ. Zunächst fand sie bei ihren Eltern in Versailles Zuflucht, wo wir mehrere Wochen wohnten und wo ich in einer nahe gelegenen Schule angemeldet wurde. Aus dieser Zeit ist mir die verworrene Erinnerung an eine Schultafel voller weißer Kreidezeilen geblieben, die die anderen lesen konnten, ich jedoch nicht zu entziffern vermochte. Schließlich kam mein Vater und holte uns zurück, dann wurden wir wieder von Lucile entführt, dann wieder von Gabriel, bis endlich ein amtlicher Nichtversöhnungsbeschluss erging, der die Trennungsfolgen regelte.
Später zog Lucile mit einem anderen Mann in eine Wohnung in der Rue Mathurin-Régnier im 15 . Arrondissement. Sie hatte Tibère einige Monate zuvor über Barthélémy kennengelernt, der inzwischen Junior Art Director in einer Werbeagentur war. Tibère war ein Riese mit orangerotem Haar, freier Fotograf und überzeugter Anhänger der Freikörperkultur. Wenn wir so zu ihm aufschauten, erschien er uns als Wesen aus einer anderen Welt und vage angsteinflößend. Neben den Schokoladenstückchen, die Lucile für unseren Nachmittagsimbiss auf Brotscheiben schmelzen ließ, und der Fernsehsendung, die ich jeden Donnerstag sah und in der Samson, ein Junge mit einem Cape, den Kindern Geschichten erzählte, habe ich an dieses Zwischenspiel nur eine einzige klare Erinnerung: an einen Anfall rasender Zahnschmerzen, der Lucile für Tage außer Gefecht setzte. Sie weinte vor Schmerzen. Es ist eins der allerersten Bilder, die ich von meiner Mutter vor Augen habe, schon belastet von meiner Ohnmacht angesichts des Leids, das sie überwältigt.
Die Scheidung meiner Eltern war entsetzlich banal, im Zentrum stand ein erbarmungsloser Kampf um das Sorgerecht für die Kinder, ein Kampf, der von beiden Seiten mit Hilfe mehr oder weniger wohlwollender Zeugenaussagen geführt wurde. Das Urteil sprach Lucile die Schuld zu (ihre Untreue wurde durch eine gerichtliche Feststellung des Ehebruchs bewiesen). Sie erhielt das Sorgerecht (oder Gabriel überließ es ihr, je nach Version). Ich war gerade sechs geworden, Manon war zwei.
Lucile hatte eine Arbeit als Sekretärin in einer kleinen Werbeagentur gefunden, sie war unter etwa hundert Kandidatinnen ausgesucht worden. Nur sie hatte Gilberte Pasquier gekannt.
Vor Beginn des neuen Schuljahrs suchten Lucile und Tibère eine Bleibe. Lisbeth hatte einige Jahre nach Lucile geheiratet und war in das Département Essonne gezogen. Über Lisbeths Mann erfuhren Lucile und Tibère, dass in der Nähe von Lisbeths Haus ein Haus frei werden würde. Der Legende nach hatte Tibère, als der Mietvertrag geschlossen werden sollte, keinen Ausweis bei sich und zeigte seine FKK -Karte. Der Vertrag wurde geschlossen. Wir zogen nach Yerres, einen etwa dreißig Kilometer von Paris entfernten Ort. Das Wohnviertel »Grands Godeaux« lag beiderseits einer Straße gleichen Namens. Auf der einen Seite stand eine Reihe roter Backsteingebäude, auf der anderen verteilten sich etwa zehn Einfamilienhäuschen um schmale, rosa geteerte Wege. Ein Stückchen weiter, Richtung Bahnhof, befanden sich eine Bäckerei, eine Apotheke und ein Coop-Laden.
Tibères Sohn Julien zog zu uns. Manon kam in den Kindergarten, und ich fing mit der Grundschule an. Wenige Tage nach Schuljahresbeginn wurde Lucile von der Schulleiterin einbestellt und gerügt: Es sei schädlich für die Kinder, wenn sie dem Lehrplan voraus seien. So erfuhr Lucile, dass ich lesen und schreiben konnte. Man beschloss, mich ein Schuljahr überspringen zu lassen.
Vielleicht kam Lucile an jenem Tag, und das für lange Zeit, auf den Gedanken,
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