Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Lächeln meiner Mutter

Das Lächeln meiner Mutter

Titel: Das Lächeln meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
Vom Netzwerk:
Ackerflächen verlorenen Haus, begann Lucile zu malen. Sie hatte ihren Aquarellkasten mitgenommen, und die Farben – Gebrannte Siena, Zinnoberrot, Kobaltblau – faszinierten mich. Wir lernten Marcel kennen, einen Landwirt aus der Gegend. Er war etwa dreißig Jahre alt, lebte bei seinen Eltern und hatte keine Kinder. Er adoptierte uns für einen Sommer, zeigte uns, wie man Kühe melkt, nahm uns ganze Tage lang auf seinem Traktor mit, ließ uns die Dunkelheit der Ställe entdecken. Er war unser Held.
     
    Am Ende des Monats kehrten wir nach Yerres zurück, um die Kartons zu packen. Lucile hatte beschlossen, das Haus aufzugeben, und Julien sollte von nun an bei seiner Mutter leben. Wir ließen die schmutzigen Wände, die abblätternde Farbe auf dem Parkett und den von Unkraut durchwucherten Garten zurück.
    Wir verabschiedeten uns von Madame Ramaud (der Nachbarin) und Madame Gilbault (der Mutter meiner Freundin Sandra), wir versprachen uns gegenseitig, von uns hören zu lassen, uns zu besuchen, uns nicht aus den Augen zu verlieren.
     
    Lucile hinterließ bei den Kindern aus dem Viertel gerührte und bewundernde Gefühle, die sie Jahre später für uns in Worte fassten. Lucile war jünger als die anderen Mütter, trug leichte Kleider und hohe Absätze, und sie hatte den Gang einer Tänzerin.
     
    Wenn Lucile von den anderen Müttern oder mit ihnen sprach, dann sagte sie (auch wenn sie deren Vornamen kannte und diese Frauen sie mit »Lucile« anredeten) immer »
Madame
Ramaud« oder »
Madame
Gibault«. In diesem
Madame
steckte eine Art Respekt, der sicher auch mit dem Altersunterschied zu tun hatte, aber, so scheint mir, auch mit der Vorstellung, diese Frauen seien, mehr, als sie selbst es je sein würde,
Damen,
im Leben verankert und imstande, sich darin zu halten.

[home]
    H eute Morgen rief mich Barthélémy an, der inzwischen in Marseille lebt, um mir einige Einzelheiten zu erklären, die ich per Mail von ihm erbeten hatte.
    Er fragte, ob ich vorankäme, ich antwortete, es gehe. Ich hätte ihm gern gesagt, wie erleichtert ich bin, aus Luciles Kindheit heraus zu sein, aus dieser fernen und geheimen Zeit, die für mich nie auch nur im mindesten greifbar war, die sich mir unablässig in dem Maße entzog, in dem ich mich ihr zu nähern glaubte. Ich wollte ihn nicht beunruhigen.
     
    Ab dem Moment, in dem Lucile Mutter wurde, das heißt, ab dem Moment, in dem ich in Luciles Leben trat, habe ich jeden Versuch aufgegeben, objektiv und in der dritten Person zu erzählen. Vermutlich dachte ich, das
ich
könne sich in die Erzählung selbst integrieren und versuchen, sie auf sich zu nehmen. Eine Illusion, natürlich. Was habe ich denn mit meinen sechs Monaten, mit meinen vier Jahren, mit meinen zehn Jahren (und selbst mit meinen vierzig Jahren) gesehen? Nichts. Und trotzdem rolle ich die Geschichte meiner Mutter weiter auf, mische meine Kindersicht mit der der Erwachsenen, zu der ich geworden bin, ich klammere mich an dieses Projekt, oder vielleicht klammert es sich auch an mich, ich weiß nicht, wer von uns beiden lästiger ist. Ich wünschte, ich könnte mehr über Manon erzählen, sie stärker in meine Erzählung einbeziehen, doch scheint mir, ich würde dann Gefahr laufen, sie zu verraten. Schreiben verschafft Zugang zu gar nichts.
     
    Wie Barthélémy fragen auch andere Leute, ob ich schreibe,
wie weit ich bin
oder ob
es vorangeht.
Die Eingeweihten wagen nur eine vorsichtige Frage, sie vermeiden es, das Projekt beim Namen zu nennen, und umgehen es höflich mit Umschreibungen oder Auslassungspünktchen.
    Dann schildere ich detailreich, wie ich mich quäle und mit welchen morgendlichen Strategien (Waschmaschine füllen, Spülmaschine ausräumen, Spülmaschine einräumen, Waschmaschine leeren) ich den Augenblick hinausschiebe, in dem ich ans Werk gehe, welche psychosomatischen Störungen (Hexenschuss, Muskelverspannungen, Krämpfe, steifer Hals) mich daran hindern wollen, mich an den Computer zu setzen, wie ich mir, nicht nur im übertragenen Sinn, das Haar raufe, ich erzähle von den fünfundzwanzig Zigaretten, die ich am liebsten Kette rauchen würde, ohne zwischendurch Luft zu holen, von den Menthol-Himbeer-Karamell-Fichtennadel-Bonbons, die ich hingebungsvoll lutsche, weil ich nicht mehr rauche, von diesem Gefühl, im körperlichen Sinne zu kämpfen, mit bloßen Händen. Und wo wir gerade bei den Handarbeiten sind: All die aufgerissenen Säume, Löcher und abgerissenen Knöpfe, die mich wochenlang nicht störten,

Weitere Kostenlose Bücher