Das Lächeln meiner Mutter
ihnen ergangen ist –, fällt es mir schwer, sie mir in ihrem heutigen Alter vorzustellen, das gilt sogar für diejenigen, die ich seither wiedergesehen habe. Das Bild von ihnen als Fünfzig- oder Sechzigjährigen kann das Bild, das ich von ihnen aus meiner Kindheit behalten habe, nicht ganz überlagern, die Bilder stehen nebeneinander. Diese Namen gehören ebenso wie die Namen der Orte, an denen sie mehr oder weniger gemeinschaftlich gelebt haben (Clamart, Eugène-Carrière, Vicq-d’Azir, la Maison des Chats) zu unserer Geschichte und bleiben ihr auf schwer definierbare Weise, aber tief verbunden.
Damals gab es noch einen Austausch zwischen Lucile und den anderen, zwischen Lucile und diesen Orten, an denen man redete, lachte, trank und an denen dennoch die Träume von einem anderen Leben erloschen. Denn ringsum war die Zeit der Enttäuschung gekommen. Die politischen Wege gingen auseinander, das militante Engagement verlor an Fahrt, die Revolution verebbte oder radikalisierte sich in einem Frankreich, in dem Wohlstand und Konsum die Schockwelle der beiden Ölkrisen nur schwer überdecken konnten. Soweit ich weiß, hat Lucile nie zu den Militanten gehört, sich nie in einer politischen Bewegung engagiert, nicht zu den »Frauengruppen« gehört, die damals überall im Schwange waren. Doch für diejenigen, die sie liebte und mit denen sie umging, waren diese Jahre eine Zeit der Desillusionierung.
Bald nach unserem Umzug nach Bagneux lernte Lucile Niels kennen, der jünger war als sie und bei Justine und den anderen in Clamart wohnte. Niels wurde Luciles Geliebter. Er kam abends zum Essen, blieb über Nacht, verbrachte einige Wochenenden mit uns. Anders als andere Männer, die Lucile auf unser Territorium ließ, fand Niels (vielleicht seiner Jugend wegen) Gnade vor unseren Augen. Uns gegenüber verhielt er sich mit zurückhaltender, wohlwollender Rücksichtnahme, und was mich angeht, ich glaube, ich war ihm dankbar dafür, dass er die richtige Distanz hielt. Wir besuchten ihn in Clamart, gingen im Wald spazieren, tranken in der Küche einen heißen Kakao. Diese Erinnerungen sind mit einer Art Zur-Ruhe-Kommen verbunden.
In den wenigen gemeinsamen Monaten sahen Lucile und Niels einen Film über Edvard Munch und eine Ausstellung deutscher Expressionisten, tranken Wein und redeten bis spät in die Stille der Nacht. Lucile und Niels litten beide an einer tiefen Verzweiflung, und sie führten intensive Gespräche über die Möglichkeit des Freitods. Das haben wir später erfahren. Und dennoch fand Lucile bei diesem von Todesgedanken verfolgten Jungen eine Art Sanftheit. Die Verbindung zwischen Lucile und Niels gleicht dem italienischen Adjektiv
morbido,
das, anders, als man denkt, wenn man (wie ich) dieser Sprache unkundig ist, nicht
morbide
bedeutet, sondern
weich.
Wenn ich heute die Beziehung zu verstehen versuche, die Lucile mit Niels verband, dann scheint mir darin eben diese Ambivalenz zu herrschen: Meine Mutter empfand eine Art Frieden und Erleichterung, als sie derart engen Umgang mit jemandem pflegte, der von einer mindestens ebenso tiefen Verzweiflung umgetrieben wurde wie sie.
Kurz vor einem Wochenende, das sie gemeinsam verbringen wollten, wartete Lucile auf Nachricht von Niels. Er meldete sich nicht. Lucile rief in Clamart an, wo Justine, weil gerade Osterferien waren, allein mit ihm war. Justine hatte Niels nicht gesehen, versprach aber, ihm Luciles Anruf auszurichten. Lucile rief noch mehrere Male an, wurde immer besorgter und bat ihre Schwester schließlich, in seinem Zimmer nachzusehen. Justine, die damals im fünften Monat schwanger war, öffnete also die Tür zu seinem Zimmer. Sie sah Niels tot auf dem Boden liegen, sein Hirn war durch den ganzen Raum verspritzt. Er hatte sich eine Kugel in den Mund geschossen. Er war einundzwanzig Jahre alt.
Lucile ging zu seiner Beerdigung. Niels verließ unser Leben, wie er in unser Leben getreten war.
Jeden Abend, wenn sie von der Arbeit zurück war, rauchte Lucile, allein. Gras oder Shit (ich weiß nicht, wann genau ich diese und andere Wörter in meinen Wortschatz aufgenommen habe), den sie in einer kleinen rosa Blechbüchse versteckte.
Zu Manon, die sie bei der Herstellung eines Joints beobachtete und fragte, was das denn sei, sagte sie, es handle sich um ein Geheimnis und wir dürften niemandem etwas davon erzählen.
In der Schule warnten uns die Lehrer vor den Gefahren der Droge. Die Schule lag in einem gefährdeten Bereich, und das
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