Das Lächeln meiner Mutter
Orte von Schriftstellern vor – ob ich bereit sei, mich daran zu beteiligen. Gebe es einen besonders zentralen Ort für mich? Ein Seebad, einen Familiensitz, eine Hütte zum Schreiben mitten im Wald, einen wellenumtosten Steilfelsen? Ich dachte sofort an Yerres, weil ich von Anfang an nicht recht einverstanden war mit seiner Beschränkung auf die Sommer-Orte. Er nahm den Vorschlag an. Yerres war für mich eine Art Goldenes Zeitalter, es gehört mir, es gehört im Übrigen nur mir. Ich bin mir nicht sicher, ob Lucile oder Manon so über Yerres denken und sprechen würden.
Wir haben dort vier Jahre gelebt, zwei Jahre mit Tibère, dann zwei Jahre ohne ihn. Ich glaube, Lucile hat ihn verlassen, oder aber sie haben sich getrennt. Tibère war für sie der Mann des Aufbruchs, des Übergangs. Er hinterließ uns seinen Sohn Julien, der bei uns blieb, bis wir umzogen.
An den Zeitraum nach Tibères Weggang habe ich nicht mehr so genaue Erinnerungen. Die Leute in Luciles Umgebung sind nicht mehr ganz dieselben, einige sind verschwunden, andere hinzugekommen, und wieder andere sind nur vorübergehend da.
In dieser Zeit lernte Lucile Nébo kennen, in den sie sich unsterblich verliebte und der bis zum Ende ihres Lebens ihre herzzerreißende große Liebe blieb. Nébo war italienischer Abstammung, sein Haar war von einem unwandelbar wirkenden Schwarz und seine Augen grün wie klares Wasser. Er war unübersehbar schön und magnetisch anziehend. Es hieß über ihn, er sei ein
homme à femmes,
ein Mann, der sich nicht binde, jedenfalls ist das meine Erinnerung, dieser Ruf des etwas Diabolischen, der ihn umgab und unerreichbar machte. Einige Monate lang kam er abends in das Wohnzimmer mit dem weißen Parkett, er kam in Abständen, mit Freunden oder allein, und versuchte nie, irgendeinen Kontakt zu uns Kindern herzustellen. Ich lauschte den Gesprächen der Erwachsenen, hörte die Namen, die dort genannt wurden, Freud, Foucault, Wilhelm Reich, und versuchte mir Abkürzungen zu merken, die ich nicht verstand.
Estelle Ramaud ging zur heiligen Kommunion und bekam bei dieser Gelegenheit eine Armbanduhr und Spitzen-BHs. Ich bekam einen Mystik-Anfall und verlangte, auf der Stelle zur Kommunion zu gehen, worauf mir beschieden wurde, erstens sei ich nicht im Kommunionsunterricht gewesen und zweitens hätte ich noch keinen Busen.
Es wurde zum ersten Mal bei uns eingebrochen, Luciles Schmuck und der Plattenspieler wurden gestohlen.
Lucile beschloss, ein wenig Ordnung ins Haus zu bringen, von nun an hätten wir unsere Zimmer aufzuräumen.
Lucile fing bei einer Firma an, die Lederhandtaschen in allen Farben herstellte.
Nébo blieb einige Monate bei Lucile, dann verließ er sie. Er hinterließ eine schmerzhafte, mysteriöse Spur und eine ganz ihrem Kummer hingegebene Lucile.
Der Kreis rings um uns wurde kleiner, die grünen Matratzen verblichen, die weiße Farbe begann vom Parkett abzublättern.
Lucile brach morgens früh auf und kam abends spät zurück, wir trieben uns bei den 1 -Franc-Automaten mit Kaugummi und billigem Schmuck herum, spielten auf den rosa Teerwegen Murmeln, hörten auf unseren »Mange-Disques«, tragbaren Plattenspielern für Singles, Dave Steward und Ringo Starr und schnitten unseren Puppen die Haare. Zwischen Schulschluss und Luciles Heimkehr erstreckte sich eine Zeit, die allein der Kindheit gehörte, eine Zeit des Vagabundierens, die durch den Genuss einer Schleckmuschel gekrönt wurde, eine Zeit, die uns zwischen den klebrigen Fingern zerrann und keine Grenze zu haben schien.
An manchen Abenden hielten wir als Empfangskomitee auf der Brücke über den Gleisen im blassen Laternenlicht nach dem Zug Ausschau, der Lucile aus Paris nach Hause bringen würde. Wahrscheinlich begann uns bei aller Sorglosigkeit bewusst zu werden, dass etwas Schweres auf ihr lastete, etwas, das mit Einsamkeit und Müdigkeit zu tun hatte, etwas, wogegen wir nichts tun konnten.
In dem letzten Sommer, den Julien mit uns verbrachte, fuhr Lucile mit uns ins Isère, wo sie ein Haus gemietet hatte. Auf der Autobahn wurde der apfelgrüne Peugeot 403 von der Polizei angehalten. Der Wagen war zu alt oder nicht in Ordnung, jedenfalls gab es ein Problem. Lucile argumentierte und diskutierte, das Ganze erschien uns recht kompliziert. Und dann, mit einem Mal, begann Lucile zu weinen, das Gesicht in den Händen vergraben. Die Gendarmen ließen uns weiterfahren.
In Blandin, in diesem riesigen, in den
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